■^'-v-?*./H OEKRÖNTE UND UNGEKRÖNTE JUDENFREUNDE VON DR. ADOLPH KOHUT MIC]lO-n.r:ED BY UNIVEnSITY OF TORONTO LIBRARY MASTER NEGATIVE NO.: fZoqc>S VERLAG DR. BASCH & CO. :: G. M. B. H. BERLIN. injUgj fölfDl [ölföl ■"''■3 mg Alle Rechte vorbehalten. Ds Inhaltsverzeichnis. Seite Vorwort 5 I. Pursten, Päpste und Staatsmänner in ihrer Stellung zum Judentum. 1. Benedict XIV., ein judenfreundlicher Papst 9 2. Die Emanizipation im Königreich Westfalen unter Jerome Napoleon und Napoleon 1 17 3. Königin Luise v. Preußen und die Juden 39 4. Lord John Rüssel und die Juden in England 44 5. König Maximilian IL von Bayern 59 6. Kaiser Friedrich III 64 7. Ludwig Kossuth 77 8. König Eduard VII. als Judenfreund 82 II. Forscher und Gelehrte in ihren Beziehungen zum Judentum. L Immanuel Kant 93 2. Arthur Schopenhauer 119 3. Alexander V. Humboldt, ein Vorkämpfer der Judenemanzipation in Preußen 126 III. Berühmte Schriftsteller und ihr Standpunkt zur Judenfrage. 1. Christoph Martin Wieland 151 2. Joh. Gottfr. V. Herder 163 3. Ludwig Uhland 181 4. Wilhelm Hauff 185 5. Oraf Leo Tolstoi 193 Vorwort. Ist auch der Kampf, den das Judentum in allen Kultur- ländern seit Jahrhunderten um die sogenannte „Emanzipation", d. h. um die staatliche Gleichberechtigung der Anhänger des mosaischen Glaubens, mit allen geistigen Mitteln geführt hat, heutzutage im großen und ganzen beendet, so sind doch leider die Ergebnisse desselben keine allgemein befriedigenden. Noch immer werden in vielen europäischen Reichen, und zwar nicht allein in Rußland und Halbasien, sowie in exotischen barbarischen Staaten, die Juden als Staatsbürger zweiter Klasse behandelt. Sie sind zahlreichen Kränkungen, Demütigungen und moralischen Drangsalierungen ausgesetzt. Selbst dort, wo die Juden-Emanzi- pation in vollkommenster Weise durchgeführt ist, und die Israe- liten vor dem Gesetze den Anhängern der christlichen Konfessionen durchaus gleichgestellt, und wo ihnen ihre Rechte und Gesetze durch die Verfassung garantiert sind, versucht die Verwaltungs- praxis und Legislative die in Jahrzehnte und Jahrhunderte langen Kämpfen mühsam genug erreichten Errungenschaften in Frage zu stellen. Bezeichnend für die schwankende politische bezw. staats- bürgerliche Gleichstellung der Juden ist schon der Umstand, daß der Antisemitismus in Deutschland, Österreich und anderen Kulturstaaten noch immer sein Medusenhaupt er- heben darf und daß die Antisemiten noch immer ihr schmähliches Handwerk frank und frei treiben und dabei viel- fach auf die Sympathien gewisser Elemente rechnen können, die aus Neid, Mißgunst und anderen unlauteren Instinkten und Leidenschaften das ruchlose Gebahren der sozialen Hetzer und Vergifter der öffentlichen Meinung unterstützen. Allerdings ist, zum Ruhme der Menschheit sei es gesagt, die Hochflut des Antisemitismus hüben wie drüben vielfach im Rückgang be- griffen, oder wenigstens der sogenannte Radauantisemitismus — 6 — der sich der rohesten und verwerflichsten Gewaltmittel be- diente, in seine Schranken zurückgewiesen worden, aber der latente Judenhaß der sogenannten „gebildeten" christlichen Kreise hat leider nicht aufgehört, Unheil zu stiften, und die gesellschaftliche und ethische Brunnenver^giftung der Judenfeinde fordert noch immer zahlreiche Opfer. Ich glaube daher, daß es als ein bedauerlicherweise durch- aus zeitgemäßes Unternehmen betrachtet werden muß, wenn wir hier einmal den Versuch machen, die Stimmen hervorragender christlicher Männer und Frauen großer Völker und Zeiten zu sammeln, damit sie Zeugnis für Juden und Judentum ab- legen. Fürsten, Päpste, Staatsmänner, Parlamentarier, Denker, Dichter, Forscher und Künstler christlichen Bekenntnisses, von der Gloriole ihrer glänzenden Namen umstrahlt, sind hier vereinigt, um ihre Sympathien und ihre Verehrung für den jüdischen Stamm, die vielen leuchtenden Tugenden und glänzenden Eigen- schaften des Judentums zum Ausdruck zu bringen. Diese Geistesheroen, die sich auf dem Schlachtfelde der Juden-Emanzipation und des menschlichen Fortschrittes, sowie der Gewissens- und Glaubensfreiheit Unsterblichkeit errungen haben, verkünden hier ihren christlichen Glaubensgenossen mit feurigen Zungen die wahre Nächstenliebe und brandmarken die Gesinnungsniedertracht solcher Leute und Parteien, die den Antisemitismus nur deshalb mehr oder weniger gewerbsmäßig betreiben, weil sie im Trüben fischen wollen. Es sind wahrhaft goldene Worte, die einige Licht- und Fackelträger der Kultur hier ausgesprochen, und unvergänglich sind die Taten der Humanität, die sie im Interesse Israels vollführt haben. Möchten diese Wahrheiten und Bestrebungen ein Scherflein dazu beitragen, um dem Antisemitismus, wie er noch vielfach in der Verwaltungspraxis und namentlich in der Gesellschaft sein Un- wesen treibt, gründlich aufs Haupt zu schlagen ! Möchte doch endlich die Zeit kommen, wo die Beschimpfung eines Juden, der Angriff auf seine Religion, seine Ehre oder sein Staatsbürger- tum als die größte Schmach erscheint! Möchten die Christen aller Parteien, Richtungen, Lebens- und Weltanschauungen, denen die Religion die frohe Botschaft vom Frieden ist, oder doch sein sollte, das ideale Erbe ihrer großen Führer und bildenden Geister liebevoll hegend und pflegend, dessen innewerden, daß — 7 — es kein doppeltes Recht für Juden und Christen gibt! Möchte es jedermann zum Bewußtsein kommen, daß jedes tüchtige, ehr- lich gemeinte Streben ohne Unterschied der Konfession und Rasse nicht nur anerkannt, sondern auch gefördert werden muß ! Vielleicht erweist sich das vorliegende Werk als ein nicht ganz unwirksames, blinkendes und schneidiges Schwert im großen Entscheidungskampfe um die Humanität, indem es die Bemüh- ungen jener edlen, freiheitlich denkenden und aufgeklärten Menschenfreunde unterstützt, die alle politischen, staatlichen und sozialen Schranken, die die Juden noch vielfach von den Christen trennen, zu beseitigen suchten. Das Wort, welches der hervor- ragende Rechtslehrer Franz v. Holtzendorff gesprochen, gilt eben noch heutzutage: „Den latenten Antisemitismus zu über- winden, ist die oberste, schwierigste und für die Zukunft der Juden bedeutsamste Aufgabe der nächsten Epoche. Denn das Judentum würde durch zunehmende gesellschaftliche Isolierung der Möglichkeit einer geistigen Selbstentwicklung seiner Kultur- kraft beraubt werden." Ich glaube an eine ethische Höherentwicklung des mensch- lichen Geistes und Charakters, und so hoffe ich, daß auch das Judentum früher oder später den latenten Antisemitismus eben- so bemeistern werde, wie es der pöbelhaften Ausschreitungen in vielen „Kulturländern" im Großen und Ganzen schon jetzt Herr geworden ist. Wie sagt doch Christian August Lobeck so wahr und treffend: „Wie der Aar im hohen Äther ohne Grenze, ohne Schranke, Lenkt den Flug im Geisterreiche unaufhaltsam der Gedanke. Und das Wort, vom Geist empfangen, stark und frei im Dienst der Wahrheit Leuchtet durch die Nacht des Lebens mit des Morgenlichtes Klarheit. Berlin-Friedenau, August 1Q13. Dr. Adolph Kohut. Fürsten, Päpste und Staatsmänner in ihrer Stellung zum Judentum. Benedikt XIV., ein judenfreundlicher Papst. Seit der Zeit der Unfehlbarkeit und besonders seit den Tagen Pius IX. erscheint es wie ein Märchen aus alten Zeiten, wenn wir von einem judenfreundlichen Papst reden, das heißt von einem solchen, der auf geistigem, kulturellem und konfes- sionellem Gebiete dem Humanismus und der Duldung huldigte. Aber gerade in unseren Tagen des starren „non possumus*' dürfte es sehr angebracht sein, auf einen ruhmvollen Träger des Krummstabes aufmerksam zu machen. Wir meinen den am 3. Mai 1758 verstorbenen Papst Benedikt XIV. Ein gelehrter und geistreicher Kirchenfürst war der 1675 in der altberühmten Universitätsstadt Bologna geborene Prosper Lambertini, der sich als Papst Benedikt XIV. nannte, zugleich ein Förderer von Kunst und Wissenschaft und von der lauter- sten Lebensführung, In seiner duldenden Milde und humanen Gesinnung kannte er keinen Haß und keine Verfolgungswut; ihn leitete nur der Gedanke der Eintracht und Versöhnlichkeit. Speziell Preußen hat alle Ursache, seiner mit Verehrung und Sympathie zu gedenken, denn er war der erste unter den Päpsten, der die protestantische preußische Königswürde anerkannte, wie er denn auch sich mit den protestantischen Fürsten vertrug, ohne Bannflüche g^en sie zu schleudern. Dem Treiben der Jesuiten suchte er entgegenzuwirken, hob Handel und Gewerbe, stiftete wissenschaftliche Akademien in Rom und leistete der Wissenschaft durch die Übersetzung der besten gelehrten Werke und Herausgabe der vatikanischen Handschriften unvergängliche Verdienste, Franz Xaver Kraus, der die Briefe Benedikt XIV. an den Kanonikus Pier Francesco Peggi in Bologna veröffentlichte, — 10 — charakterisiert den Träger der Tiara treffend mit den Worten : „Ehren pflegen die Sitten zu ändern. Es ist ein Beweis sittlicher Größe, daß Lambertini kein anderer wurde, als er Benedikt XIV. hieß. Die Zeitgenossen haben es hervorgehoben, daß er, an die Spitze der Christenheit gestellt, von jeder Überhebung frei blieb und seinem alten munteren, leutseligen Wesen nicht un- treu wurde . . . Kein Papst kann in gleichem Maße wie Bene- dikt XIV. als die Inkarnation des itaUenischen Geistes nach seinen besten und liebenswürdigsten Seiten genannt werden, ja ich weiß überhaupt keinen anderen modernen Italiener, dessen geistige Physiognomie jene eigentliche Vereinigung von durch keine Vorurteile beirrtem Scharfsinn, sprudelndem Esprit, herz- hcher Bonhommie und zugleich gelehrter und aufrichtiger Reli- giosität aufzuweisen hätte." Benedikt XIV. bekundete seine vorurteilslose, lautere und humane Gesinnung auch in seinem Verhalten den Juden gegen- über. Es wird ihm zur ewigen Ehre angerechnet werden, daß, als unter seinem Pontifikate eine Untersuchung der Blutbeschul- digung gegen die Juden stattfand und er mit der Abgabe eines Gutachtens den Kardinal Ganganelli, den späteren Papst Cle- mens XIV., den Aufheber des Jesuiten-Ordens, beauftragte, dieser im Geiste des Oberhauptes der Kirche eine glänzende Recht- fertigungsschrift der Juden veröffentlichte. Das Vorgehen des milden Papstes wirkte natürlich auch auf die übrigen Würden- träger der Kirche, besonders die Bischöfe, die sich unter dem Pontifikat Benedikts XIV. durch ihre Friedensliebe auszeichneten. Anknüpfend an die Worte Innocenz IV., erneuerte er die Bulle des genannten Papstes aus dem Jahre 1247 an die Kirchen- fürsten von Frankreich und Deutschland, worin die Anschuldi- gungen gegen die Juden rücksichtslos verurteilt und widerlegt wurden. Es wird nicht ohne Interesse sein, den Wortlaut dieser Bulle hier kennen zu lernen : „Einige Geistliche und Fürsten, Edle und Mächtige Eurer Länder erdenken,'* sagt Innocenz, „um das Vermögen der Juden ungerechterweise an sich zu reißen, gottlose Anschläge gegen sie und erfinden Anlässe. Sie dichten ihnen fälschlich an, zur Passahzeit das Herz eines ermordeten Knaben untereinander zu teilen. Die Christen glauben, daß das Gesetz der Juden ihnen solches vorschreibe, während in dem Gesetze das Gegen- — 11 — teil offen liegt. Ja, sie werfen den Juden boshaft einen ii^end- wo gefundenen Leichnam zur Last, und auf Grund solcher und anderer Erdichtungen wüten sie gegen dieselben, berau- ben sie ihrer Güter, ohne förmliche Anklage, ohne Geständ- nis, ohne Überführung. Im Widerspruch gegen die ihnen vom apostolischen Stuhl gewährten Privilegien, gegen Gott und seine Gerechtigkeit, bedrücken sie durch Nahrungs-Entziehung, Kerkerhaft, andere Quälereien und Drangsale die Juden, legen ihnen allerhand Strafen auf und verdammen sie zuweilen so- gar zum Tode, so daß die Juden, obgleich unter Fürstlich- keiten lebend, die das Christentum bekennen, doch schHmmer daran sind als ihre Vorfahren in Ägypten unter den Pharaonen. Sie werden gezwungen, im Elend das Land zu verlassen, in welchem ihre Vorfahren seit Menschengedenken wohnten. Da Wir sie nicht gequält wissen wollen, so befehlen Wir, daß Ihr Euch ihnen freundlich und gütig zeiget; wo Ihr unge- rechte Angriffe gegen sie wahrnehmet, stellet sie ab und gebt nicht zu, daß sie in Zukunft durch solche und ähnliche Be- drückungen heimgesucht werden. Die Bedrücker der Juden sollen mit dem Kirchenbann belegt werden." Gerechtigkeit ist die unerläßlichste Tugend des Geschichts- schreibers, und so müssen wir bei aller Anerkennung des edlen Charakters und des lauteren Wollens des hochherzigen Papstes darauf hinweisen, daß er der alten Überlieferung doch nicht ganz entsagen konnte, d. h. daß es auch sein eifriges Streben war, die Juden zu bekehren und für die Kirche zu gewinnen. Doch hat schon Dr. Paul Rieger in seiner vortrefflichen Geschichte der Juden in Rom *) mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß alle dahin zielenden Bestimmungen Benedikt XIV. das Leben und die Sicherheit der Gesamtheit durchaus nicht bedroht haben. Bei all seiner Liebe dafür habe er doch das Herz für die stand- haften Juden auf dem rechten Flecke behalten. Mit seiner Re- gierung habe eben eine Zeit erträglicher Ruhe für die römischen Juden begonnen. Unvergessen sei dem Papst sein eindringlicher Brief an das Episkopat und Primat Polens zum Schutze der Juden vom 14. Juni 1751, mit den Worten beginnend: „De his quae vetita sunt Hebraeis". •) Bd. II, S. 241 ff. — 12 — Wo er nur konnte, schützte er die Juden gegen die Roh- heiten, die sich römische Edelleute einerseits und fanatische Geisthche anderseits gegen sie herausnahmen. Den Insassen des Ghetto kam er mit FreundHchkeit entgegen. Er gestattete ihnen in einem Dekret vom 14. September 1740 den Handel mit neuem Tuch, befreite die Gemeinde von einigen gar zu drückenden Steuern und sistierte alle Verfolgungen seiner israelitischen Un- tertanen seitens ihrer christlichen Gläubiger. In mehreren Bullen ordnete er die Judentaufen, indem er allen gewalttätigen und gewaltsamen Eingriffen in die Gewissens- freiheit ein Ende machte. In der am 28. Februar 1747 erlassenen Bulle beantwortete er die Frage, ob es erlaubt sei, jüdische Kinder gegen den Willen der Eltern zu taufen, durchaus ver- neinend. Doch meint er, daß immerhin eine widerrechtUch vollzogene Taufe ihre Gültigkeit habe, und daß so getaufte Kinder frommen Christen zur weiteren Erziehung übergeben werden müßten, doch müsse einer Taufe eine Untersuchung der etwaigen Ursachen derselben vorangehen, da die Erfahrung lehre, daß jüdische Mädchen oft nur wegen der Aussicht auf eine Ehe mit einem Christen ihrem alten Glauben untreu werden und daß jüdische Männer des öfteren wegen Auflösung ihrer Eheverhältnisse oder wegen großer Schulden sich zur Taufe melden. Bei solchen, die zur katholischen Kirche übertreten, müsse genau untersucht werden, von wem sie getauft worden seien und ob die Taufe in der richtigen Form geschehen sei. Dann sei auch eine Einführung der Täuflinge in die Glaubens- lehre nötig. Falls nun der Täufling nach der Taufe erklärt, nicht den nötigen Willen zur Taufe gehabt zu haben, müsse man ihn zu einer zweiten Taufe veranlassen. Wenn er sich aber dem nicht unterziehen wolle, so bleibe nichts anderes übrig, als ihn zu entlassen. *) In der Geschichte des Judentums nimmt Benedikt XIV. durch seine schon genannte Stellungnahme in der Blutbeschuldigung gegen die Juden einen Ehrenplatz ein. In der Passah-Woche des Jahres 1756 hatte man in Jampoli in Polen den Leichnam eines Christen gefunden. Sofort erhob sich die Blutanklage gegen die dortigen Juden, deren Folge eine Judenverfolgung war, die *) A. a. O., 5. 243 ff. — 13 — von den Bischöfen noch unterstützt wurde. Die armen, gehetz- ten Juden schickten deshalb einen ihrer Glaubensgenossen, Ja- kob Selek, oder, wie er sich selbst nannte, Eljakim ben Asser Selig, nach Rom, um die Hilfe des Papstes in Anspruch zu nehmen. Er überreichte diesem eine Bittschrift der polnischen Gemeinde, ihn um Schutz gegen die Blutbeschuldigung anfle- hend. Der Papst betraute, wie schon erwähnt, mit dem Be- richt und der Durchsicht desselben den Rat des heiligen Offi- ziums Lorenzo Ganganelli, den späteren Papst Clemens XIV. Am 21. März 1758 hatte dieser seine eingehende Denkschrift vollendet und der Kongregation eingereicht, worin die Juden gegen alle derartigen verleumderischen Beschuldigungen in Schutz genommen wurden. Jakob Selek wurde ehrenvoll ent- lassen und dem Bischof von Warschau, Visconti, warm empfoh- len, der zugleich den päpstlichen Auftrag erhielt, sich der Juden in Polen gegen die Blutanklage anzunehmen. Hierauf veröffent- lichte dann August III. von Polen ein Rechtfertigungs-Dekret der Juden. Leider war es dem Papst nicht mehr vergönnt, in der Frage der Blutbeschuldigung noch weitere Schritte zu tun, weil er durch den Tod der Menschheit entrissen wurde. Aber sein Nachfolger, Clemens XIIL, handelte ganz in seinem Sinne. Er duldete keine Gewalttat und beschirmte die Juden, soweit nur seine Macht reichte. Dafür huldigten ihn aber auch die römischen Juden in begeisterter Weise. Als er zum Papst gewählt wurde, brachte die Gemeinde neben den gewöhnlichen Emblemen auf der Via triumphalis zwei große Inschriften an. In der ersten empfahl sich die Gemeinde „untertänigst dem gerechten, glück- verheißenden, frommen, durch göttliche Eingebung zum Papste gewählten Papst*'. An diese Widmung schloß sich ein Ge- dicht in Hexametern. Die zweite Inschrift war eine Elegie in Distichen. Ihre Überschrift wünschte „an dem feieriichen, glück- verheißenden, heiß ersehnten Tage seinem ruhmvollen Possesso, dem mit allen Tugenden reich geschmückten Papste, den herr- lichen Triumph des Friedens". Und wie Clemens XIII., so war auch dessen Nachfolger, der schon genannte Lorenzo Ganganelli beziehungsweise Cle- mens XIV., in noch höherem Grade ein Gesinnungsgenosse Be- nedikts XIV., ein Geist von eigentümlicher Feinheit und Milde — 14 — und ein Gemüt voll Enthusiasmus, Empfänglichkeit und Liebe. Seine Religion war nicht Eifer, Verfolgung, Herrsucht und Po- lemik, sondern Friede, Demut und inneres Verständnis. Von ihm sagt treffend Rieger*): „ Er war so vom Geiste der Humanität und Menschenliebe durchdrungen, daß er alles, was in seiner Macht stand, zur gesellschaftlichen und ökono- mischen Hebung seiner jüdischen Untertanen tat. Er war so einsichtig, auch den regsamen Juden- Anteil an dem allgemeinen Streben zur Kräftigung seines Staates gewähren zu lassen. In den Jubelruf bei seiner Krönung, an der die ötmeinde in der gewohnten Weise Anteil nahm : „Freut Euch laut, Ihr armen Horden, Ganganell ist Papst geworden'' hat wohl niemand freudiger eingestimmt als die jüdische Ge- meinde.*' Die Bulle Benedikts XIV. vom März 1747, die aufs strengste verbietet, die unmündigen Kirfaer der Israeliten ohne Zustimmung ihrer Eltern oder Vormünder zu taufen, blieb nicht ohne Wir- kung; sie veranlaßte später den Papst Clemens XIII. zu seiner Bulle vom 9. Februar 1769. Danach sprach der Papst, nachdem er in einer allgemeinen Versammlung die Meinung der Kardinäle und Generalinquisitoren über die heimliche Taufe eines jüdischen Kindes gehört hatte, die Strafe der Verbannung gegen die aus, welche die Taufe vollzogen hatten, obgleich dies Katechumenen waren, und befahl, daß das Kind den Eltern zurückgegeben werden sollte. Schon früher hatte im Namen des Papstes und des heiligen Offiziums der Generalinquisitor in Avignon am 20. März 1767 ein Dekret erlassen, wodurch aufs strengste verboten vmrde, jüdische Kinder zu taufen oder damit zu drohen oder zu be- haupten, sie seien getauft; ebenso wurde aufs strengste unter- sagt, jüdische Kinder unter dem Vorwande, sie zu taufen oder in der christHchen Religion zu unterrichten oder weil sie ge- tauft seien, den Eltern zu entführen, alles das bei Leibesstrafen oder bei Strafe der Galeeren für die Männer und der Aus- peitschung auf der Straße für die Frauen. *) A. a. O., S. 248. — 15 — Benedikt XIV. nahm es mit der christlichen Moral und Ethik genau. Er wollte keine heuchlerische Moral, keine gleiß- nerische Frömmigkeit, um unter ihrem Deckmantel allerlei ab- scheuliche Attentate gegen Ketzer und Juden zu vollziehen, son- dern verlangte von der Christenheit, speziell von den Katholiken und der Geistlichkeit, einen sittlich reinen Lebenswandel, eine friedfertige, echt religiöse und humane Gesinnung, und vor allem die Vermeidung jeden Grunds, der die Eintracht zwischen den Bekennem der einen oder anderen Konfession zu trüben geeignet wäre. Selbstverständlich rächten sich die Jesuiten und ihre Verbündeten an dem Papst. In Schmähschriften aller Art und durch Intrigen suchten sie ihm sein Amt zu verleiden, und in den Briefen an den schon genannten Kanonikus Peggi, worin er sein ganzes Herz ausschüttete, gibt er in beweglichen Worten seinen Klagen über die Last und Bitternisse seiner schweren Bürde Ausdruck. Sein köstlicher Humor jedoch und seine feurige Begeisterung für die idealen Güter der Menschheit ließen ihn selbst das Schwerste mit Würde tragen. Der Papst fand Trost und Ruhe in schriftstellerischen Ar- beiten und im Studium. Alle seine Mußestunden widmete er der Lektüre des Alten Testamentes. Auch den Talmud las er in vorhandenen lateinischen Übersetzungen. Er war ein Freund der haggadischen Elemente im nachbiblischen Schrifttum. Und die verschiedenen Allokutionen, die er hielt, sowie die diversen Verordnungen legen Zeugnis von diesem seinem ernstlichen For- schen ab. Daneben war Benedikt XIV. einer der bescheidensten Men- schen, die je gelebt haben. Er lehnte alle Lobeserhebungen und Ehrenbezeigungen liebenswürdig, aber entschieden ab. Schon die eine Tatsache, daß Benedikt XIV. einen Fra Girolamo Savonarola, den einer seiner Vorgänger, der Papst Alexander VI., mit dem Banne belegt hatte und der den entsetzlichen Tod auf dem Scheiterhaufen fand, der Kanoni- sation für würdig erklärt hat, weil er ihn für einen der genialsten Männer und einen der besten Theologen, sowie für einen Märtyrer der Wahrheit hielt, beweist, welch edler, von keinen Vorurteilen und Bedenklichkeiten befangener Geist in dem Papste lebte. Eben- so energisch trat er dagegen auf, wenn es sich darum handelte, einen finsteren Fanatiker und ausgesprochenen Judenfeind wie den — 16 — Jesuiten und Kardinal Bellarmin, der für die päpstliche Un- fehlbarkeitslehre eintrat und vor Fälschungen von Brevieren und Martyrologien nicht zurückschreckte, heilig zu sprechen. Zu- sammen mit seinem Gehilfen, der ihn in seinen humanitären An- schauungen kräftig unterstützte, dem Kardinal Passionei, ver-. eitelte er die von den Jesuiten beabsichtigte Und betriebene Selig- sprechung Bellarmins, Es sei noch erwähnt, daß die Juden im 18. Jahrhundert nicht allein auf dem duldsamen Gebiet der Republik Venedig, sondern auch im Kirchenstaat unter dem Pontifikate Benedikts XIV. eine Zufluchtsstätte fanden und ihrem Beruf ungestört nachgehen konnten, ohne von den Schergen der Inquisition gehetzt und an Gut und Blut bedroht zu werden. Was Friedrich der Große, der bekanntlich das schöne Wort gesprochen: „In meinem Staate kann jeder nach seiner Fagon selig werden!'' in Fragen der konfessionellen Duldung für Preu- ßen, was Kaiser Joseph II. für Österreich im 18. Jahrhundert war, das bedeutete Benedikt XIV. für die Menschheit im all- gemeinen und für den Kirchenstaat im besonderen. Die Emanzipation im Königreich Westfalen unter Jerome Napoleon und Napoleon I. „König Lustik*', der jüngste Bruder des Welteroberers und Reichezertrümmerers Napoleon I., Jerome Bonaparte, wird viel- fach nicht mit Unrecht von den Geschichtsschreibern als eine Possen- oder doch Operettenfigur behandelt, indem man ihm seine Vorliebe für Karnevalsbelustigungen, Maskenscherze und allerlei Mummenschanz vorwirft. Er wird als eine komische Figur hingestellt, da seine ganze siebenjährige Regierungszeit — am 18. August 1807 wurde das neue Königreich Westfalen von Napoleon I. gegründet und endete im Oktober 1813 mit dem Siege der Verbündeten über den Kaiser der Franzosen — eine Kette von allerlei törichten Streichen und einen Ratten- schwanz der wunderlichsten Vorgänge bildete, aber es wäre unrecht, wollte man die kulturgeschichtliche Bedeutung des neuen Königreichs und den Einfluß, den dasselbe auf die Entwicklung der freiheitlichen Ideen und der konfessionellen Duldung und Humanität übte, in Abrede stellen. Gewiß war Jerome Napoleon kein Kriegsheld. Er hat die Welt mit dem Ruf seiner kriegerischen Taten nicht erfüllt, auch war er kein Staatsmann von umfassender Bedeutung und ursprünglicher Be- gabung, ebenso ließ seine persönliche Würde oft manches zu wünschen übrig, aber es entspräche keineswegs den geschicht- lichen Tatsachen, wollte man ihn ausschließlich als einen Hans- wurst, als einen Bajazzo hinstellen, der gleichsam auf deutschem Boden lediglich eine Karikatur auf die Größe und Macht seines Bruders abgab. Was ihm vor allem einen bleibenden Namen verschafft und sein Andenken in der Erinnerung der Zeitge- nossen erhalten sowie auf den Tafeln Klios mit goldenen Let- tern verzeichnet hat, ist der Umstand, daß er in Glaubens- sachen absolut kein Vorurteil hegte, daß er noch strenger wie Kohut, Gekrönte und ungekrönte Judenfreunde. 2 — 18 — Napoleon I. die Duldung nicht allein predigte, sondern auch be- betätigte und den umwälzenden und bahnbrechenden Ideen der großen französischen Revolution von 1789 wenigstens in der Frage der staatsbürgerlichen Berechtigung aller Untertanen ohne Unterschied der Nationalität und der Konfession zum Siege verhalf. Am 5. November 1807 hatte Napoleon I. die neue Ver- fassung für Westfalen in Fontainebleau unterzeichnet. Als er dieselbe seinem Bruder Jerome übersandte, Heß er ihm zu- gleich allerlei Instruktionen zukommen, die der sonst so leicht- sinnige, flatterhafte und nicht gerade philosophisch veranlagte Jerome während seiner ganzen Regierungszeit treu befolgte. Nur einiges aus diesen Instruktionen sei hier mitgeteilt: „Hören Sie nicht auf die,'' schrieb ihm der Kaiser der Fran- zosen u. A., „welche Ihnen sagen, Ihre Völker, an die Knecht- schaft gewöhnt, würden Ihre Wohltaten mit Undank aufnehmen. Man ist im Königreich Westfalen aufgeklärter, als man Sie überzeugen möchte und Ihre Regierung wird nur auf dem Zu- trauen und der Liebe der Bevölkerung wahrhaft begründet sein. Was die Völker Deutschlands mit Ungeduld wünschen, ist, daß die Individuen, die nicht adlig sind und Talente besitzen, ein gleiches Recht auf Ämter erhalten. Ihre Völker müssen eine Freiheit, eine Gleichheit, einen Wohlstand genießen, die den Völkern Germaniens unbekannt sind. Diese Art zu regieren wird eine mächtigere Barriere sein, um sie von Preußen zu scheiden, als die Elbe, die festen Plätze und Frankreichs Schutz. Welches Volk wird unter das willkürliche preußische Regiment zurückkehren wollen, wenn es die Wohltaten einer weisen und liberalen Regierung gekostet haben wird? Die Völker Deutsch- lands, Frankreichs, Italiens, Spaniens wünschen die Gleichheit und wollen liberale Ideen. Es sind schon viele Jahre, daß ich die Affairen Europas leite und ich habe Grund gehabt, mich zu überzeugen, daß das Gemurre der Bevorrechteten der allge- meinen Meinung zuwider geht. Seien Sie ein konstitutioneller König. Wenn die Vernunft und die Einsicht Ihres Jahrhunderts nicht genügen sollten, so würde es in Ihrer Lage die gute Politik Ihnen gebieten. Sie werden finden, daß hierin eine wichtige Meinung und ein natürliches Übergewicht über Ihre Nachbarn, die absolute Könige sind, liegt." — 19 — Das neue Königreich Westfalen, das Napoleon I. nach dem Frieden von Tilsit (9. Juli 1807) gleichsam aus dem Erdboden stampfte, war aus den verschiedensten deutschen Ländern zu- sammengesetzt oder besser gesagt durch die Kunst des großen politischen Taschenspielers an der Seine zu einem einheitlichen Staatengebilde amalgamiert. Es bestand ursprünglich aus dem Herzogtum Braunschweig, Kurhessen ohne Hanau, Schmalkalden und Katzenelnbogen, den preußischen Gebietsteilen Altmark, Hal- berstadt, Hohenstein, Goslar, Quedlinburg, Eisleben, Paderborn, Ravensberg, Münster und Stolberg-Wernigerode, den hannover- schen Gebietsteilen Göttingen und Grubenhagen, den Harzdi- strikten und Osnabrück, den sächsischen Ämtern Gommern, Barby und Treffurt, dem Gebiet von Corvei und der Grafschaft Kaunitz-Rietberg und umfaßte ein Gebiet von 688 Quadratmeilen mit fast 2 Millionen Einwohnern. 3 Jahre später, und zwar am 14. Januar 1810, wollte der Kaiser seinem Bruder ein neues Ländergeschenk machen. Jerome fühlte sich in seinem kleinen Königreich zu eng, sein Vaterland mußte größer werden, und so verehrte ihm der kaiserliche Bruder noch Hannover außer Lauenburg, wodurch dem Königreich Westfalen aufs neue 468 Quadratmeilen mit 647 000 Menschen zufielen. In allen diesen Ländern war bis dahin die Lage der Juden im großen und ganzen eine recht beklagenswerte und vor allem nicht durch die Gesetze der Menschlichkeit und Gerechtigkeit geregelt: überall waren sie Staatsbürger zweiter Klasse und von einer Juden-Emanzipation selbst im bescheidensten Sinne des Wortes konnte nicht die Rede sein. Wie sehr auch vom deutschen, nationalen und patriotischen Standpunkt aus es in hohem Grade zu beklagen war, daß ein Fremder, der kleine Bruder des großen Corsen, im Herzen Deutschlands 7 Jahre herrschte, wie sehr auch das Land in finanzieller und militärischer Beziehung unter den Lasten des neuen Regimes seufzte und welch tiefgehende Erregung auch die Günstlingsherrschaft, sowie das liederliche Treiben am Hofe des Königs Lustig hervorriefen, so muß doch nachdrücklich hervorgehoben werden, daß, wie gesagt, Jerome Napoleon in religiöser Beziehung eine ihn in hohem Grade ehrende Unbefangenheit und Unparteilichkeit an den Tag legte. Napoleon L hatte die Verfassung für das neue Königreich im Verein mit den Staatsmännern Beugnot, Johannes von Mül- 0* — 20 — ler und zum Teil mit Christian Wilhelm von Dohm ausgearbeitet. Alle drei waren erleuchtete Politiker, erfüllt von den Ideen der Encyklopädisten und der großen französischen Revolution und samt und sonders Menschen- und Judenfreunde. Der letztere war nach dem Tilsiter Frieden in westfälische Dienste getreten und wurde Gesandter des Königs Jerome in Dresden. Durch sein bekanntes Werk: „Über die bürgerlichen Verbesserungen der Juden** (Berlin 1786), worin der Geist der Duldung und der Humanität weht, hat er sich, wie man weiß, um die Ver- besserung der Lage der Juden große Verdienste erworben. In der Grundlage der Verfassung Westfalens war die Gleich- stellung der Juden mit den anderen Konfessionen enthalten, und mit einer Beharrlichkeit, Zähigkeit und Consequenz, die man sonst bei Jerome vermißte, hielt er an diesen Bestimmungen der Konstitution fest, ohne auch nur um eines Haares Breite davon abzuweichen. Am 10. Dezember 1807 zog er mit seiner jungen, lieb- reizenden und hochgebildeten Gemahlin Katharina, Tochter des Königs Friedrich I. von Württemberg, in seine Residenz Kassel ein, deren angestammter Gebieter, der Kurfürst von Hessen, damals in Dänemark im Exil lebte. Der Empfang der Bevöl- kerung war keineswegs feindselig, und wie alle deutschen Unter- tanen, so huldigten auch die Juden dem Monarchen. Einige Zeit darauf begannen die Empfänge der Deputationen aus den verschiedensten Kreisen der Bürgerschaft. Als eine Abordnung der Juden ihm ihre Aufwartung machte, antwortete er auf eine Ansprache u. a. das folgende: Es ist mein und der Konstitution, meines Landes Wille, keinen Unterschied unter meinen Unter- tanen zu machen, sie seien von welcher Konfession sie wollen. Ich hoffe, keine Ursache zu haben, das zu bereuen, was ich für die Juden tun werde, denn sie sollen meinem Vorsatz gemäß nicht nur Bürger sein, sondern auch öffentliche Ämter bekleiden." Und dieses edelmütige Versprechen hat er denn auch wäh- rend seiner Regierungszeit getreu gehalten, indem er die bis dahin bedrückten und verfolgten Parias der Menschheit wieder zu Ehren brachte und ihnen dieselben Rechte und Privilegien wie den übrigen Bewohnern seines Landes gewährte. Bald nach jenem Empfange, der begreiflicherweise das größte Aufsehen erregte und namentlich unter deti Juden Westfalens die freudigste — 21 — Überraschung hervorrief, schrieb der geistreiche Schriftsteller Graf Christian Ernst Bentzel von Sternau (damals Direktor des Ministeriums des Innern in Baden) in einer Zeitschrift, betitelt: „Jason" *), die schönen Worte, die deutlich genug beweisen, welches Echo das feierlich abgegebene Gelöbnis der Juden-Eman- zipation Jeromes selbst bei erleuchteten christlichen Männern jener Zeit hervorrief : „Hieronymus Napoleon sprach im Geist des weisen Welt- bürgersystems die Lösung Jahrtausende alter Bande aus, Sie fielen — die Reste einer unglücklichen Nation, sie traten aus der vernichtenden Beugung entwürdigenden Bannes in die Stellung des brüderlich aufgenommenen Bürgers, und ein deutsches Volk ehrte sie brüderlich aufnehmend, den Menschen in sich, wie das unbefangen fortschreitende Vertrauen seines Monarchen zu ihm. Heil dem Weltbürgersinn des Deutschen! Es war das feste Eiland, auf welches sich die Kraft der Nation bei dem all- mächtigen Zerfall des Vaterlandes sammelte, es wird das schnell entwickelnde, reiches Gedeihen gebende Element des neu auf- blühenden Vaterlandes sein. Denn die Fesseln sind gelöst, welche die Bekenner von Moses Lehre nicht nur an den Vorhof des bürgerlichen, sondern öfters in den Kerker des menschlichen Daseins schlössen und dankbare, frohe, edle merkwürdige Stim- men aus Israel feierten Ereignisse, Wohltat, Zukunft, Vorsätze. Man gebe dem Menschen ein Interesse, gut, rechtlich, brauchbar zu werden, er wird es. Aber den Israeliten drang man immer das entgegengesetzte Interesse auf und setzte jede Kraft der Menschennatur in den schmerzlichsten Reiz des inneren Aufruhrs gegen den stiefväterlichen Staat, gegen den Zweck des Daseins.*' Schon am 27. Januar 1808 erließ Jerome Napoleon ein feierliches Manifest, worin er die Grundsätze der Toleranz und seine Ideen der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung aller seiner Untertanen ohne Unterschied des Bekenntnisses zum Ausdruck brachte. Man wird gerade heutzutage diese Charta magna der deutschen Judenschaft mit besonderem Interesse lesen : „Wir von Gottes Gnaden u. s. w. haben nach Einsicht des 10. und 15. Artikels der Deputation vom 15. November 1807 *) 1. Jahrgang, Seite 386 — 22 — aus dem Bericht unseres provisorischen Ministers des Justizwesens und der inneren Angelegenheiten und nach Anhörung unseres Staatsrates verordnet wie folgt: 1. Unsere Untertanen, welche der Mosaischen Confession zugetan sind, sollen in unserm Lande dieselben Rechte und Freiheiten genießen, wie unsere übrigen Untertanen. 2. Denjenigen Juden, welche ohne unsere Unter- tanen zu sein, durch unser Königreich reisen oder sich darin aufhalten, sollen dieselben Rechte und Freiheiten zustehen, die jedem anderen Fremden eingeräumt werden, 3. Diesem zufolge sind alle Auflagen und Abgaben, welche allein die Juden zum Gegenstand hatten, bei welcher Gelegenheit sie eingeführt seien, und unter welcher Benennung sie auch vorkommen mögen, hier- mit gänzlich aufgehoben. Allen Edelleuten, Landesherren und anderen Gutsbesitzern, die unsere hohen Untertanen sind, wird hiermit verboten, keine dieser Abgaben mehr zu erheben oder erheben zu lassen, widrigenfalls sie allen Schaden und das ganze Interesse ersetzen sollen; auch solche, die sich der Erpressung schuldig gemacht haben, sollen gerichtlich verfolgt werden. 4. Ohne wie damals einer besonderen Erlaubnis zu bedürfen, können sie sich verheiraten, für die Erziehung ihrer Kinder und für deren Etablissement sorgen, ihnen ihre Güter abtreten, jedoch unter der Verpflichtung, bei diesen verschiedenen Hand- lungen nach den Vorschriften des Codex Napoleon sich zu rich- ten. 5. Es steht ihnen gleichfalls frei, in jeder Stadt oder an jedem anderen Orte sich niederzulassen und daselbst ihren Handel einzurichten, vorausgesetzt, daß sie der Munizipalobrig- keit davon die gehörige Anzeige machen und die Vorschriften der Corporationen und Handwerker, worin sie wünschen auf- genommen zu werden, beachten. 6. Unser provisorischer Mi- nister des Justizwesens und der inneren Angelegenheiten ist mit der Vollstreckung des gegenwärtigen Dekrets beauftragt." Der damalige Minister des Innern und der Justiz des Königreichs, Simeon, heß gleich nach Erlaß des Manifestes ver- schiedene Deputationen aller Juden des Landes einberufen, um dieselben von der ernsten Absicht des Königs zu unterrichten. Am 9. Februar wurden die Vertreter der westfälischen Israeliten zu einer Audienz bei dem König befohlen. Der schon damals all- gemein bekannte und verdienstvolle Geheime Finanzrat Israel Jacobsohn aus Braunschweig, (geboren 17. Oktober 1768 in - 23 — Halberstadt und gestorben am 14. September 1822 in Berlin), der Begründer der „Jacobsohnschule" zu Seesen am Harz, hielt eine Ansprache an den Monarchen. Die Deputation hätte keinen würdigeren und gewandteren Sprecher erwählen können wie den begabten und einflußreichen Hofbanquier, der sich bereits wesentliche Verdienste um die soziale Stellung seiner Glaubens- genossen erworben hatte. Der Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig war ein besonderer Gönner dieses seines Kam- meragenten und Jacobsohn benutzte seinen Einfluß auf den Fürsten und Landesvater zur Hebung der Lage der braunschwei- gischen Juden. Infolge seiner Bemühungen fielen am 23. August 1803 im Herzogtum Bralinschweig die bis dahin bestandenen ge- hässigen Abgaben des Leibzolles, der jedesmal bei dem Betreten fremden Gebietes von den Juden erhoben wurde, weg, dies war am 20. Januar 1804 in Baden der Fall, um 1808 erhielten die Juden daselbst ein beschränktes Bürgerrecht. In der Finanzwelt spielte er eine ganz hervorragende Rolle; der Kammeragent des Herzogs von Braunschweig war auch Hof- agent des Markgrafen Karl Friedrich von Baden. Der Landgraf Ludwig X. von Hessen-Darmstadt — der spätere Großherzog Ludwig I. — ernannte ihn zum Kommerzienrat und der Herzog Franz Friedrich I. von Mecklenburg zum Geheimen Finanzrat. Die glanzvollste Tat, die ihm auch in der Zukunft einen Namen sichert, war die Gründung und Stiftung der schon genannten „Jacobsohnschule", die er in Seesen am Harz ins Leben rief. Er spendete zu diesem Behufe 100 000 Taler. Die Schule sollte den Zweck haben, eine Pflanzstätte echter Humanität zu werden, in der die Menschen den Glauben an Gott, an sich selbst und an die Menschheit gewinnen sollte. Der einzige Weg zur Humani- sierung des Judentums dünkte ihm die sittHche Erziehung der Kinder und er setzte seine volle Kraft daran, seine Glaubensge- nossen dem einseitigen Handelsbetriebe zu entziehen und sie für Ackerbau und Handwerk zu interessieren und fähig zu machen. Fiir seine humanitären Verdienste, die er sich erworben, hatte ihn die alte Universität Wolfenbüttel am 17. September 1807 zum Ehrendoktor der Philosophie ernannt als „gründlichen Ge- lehrten im Fache der hebräischen Literatur, als Freund und Beförderer der Wissenschaften und schönen Künste, sowie des Gemeinnützlichen, als großmütigen Unterstützer manches Stu- — 24 — dierenden, so wie vieler anderer Hilfsbedürftigen, als Beför- derer heilsamer Aufklärung, als Erzieher der Jugend, als milden und weisen Stifter und Erhalter der Schule zu Seesen." Da mit dem Tode des genannten Herzogs Friedrich Wilhelm im November 1806 Jacobsohns Amt als Kammeragent wegge- fallen und Braunschweig, wie schon erwähnt, nach dem Til- siter Frieden zu dem Königreich Westfalen geschlagen wurde, war Israel Jacobsohn der Untertan des Königs Jeröme. Nun sah er in Jeröme Napoleon und dessen Manifest vom 27. Januar 1808 seine kühnsten Hoffnungen verwirklicht. Großes hatte er sich früher auch von Napoleon I. für die Lage seiner Glaubensgenossen versprochen, doch waren seine Erwartungen nicht ganz in Erfüllung gegangen. Die Notablenversammlung der Juden, die der Kaiser der Franzosen am 25. JuH 1806 nach Paris berufen hatte, nahm anfänglich einen glänzenden Verlauf. Jacob- sohn, zu jener Zeit neben Wolff Breidenbach der Hauptvertreter der Juden-Emanzipation in Deutschland, hatte die philosemitische Richtung der Napoleonischen Politik mit gespannter Aufmerksam- keit, ja mit Begeisterung verfolgt und eine Schrift erscheinen lassen, betitelt: „Les premiers pas de la nation juite vers le bonheur sous les auspices du grand Monarque Napoleon", in der er Napoleon aufforderte, für die gesamte europäische Juden- schaft einen Hohen Rat unter Vorsitz eines Patriarchen zu be- stellen und mit Entzücken sah er, wie der Notablenversammlung das große Synhedrin folgte. Der beste Lehrer der Jacobsohnschen Schule in Seesen, Benedikt Schott, war in seinem Auftrag nach Paris gereist, um den Deputierten eine Denkschrift über die Notwendigkeit einer besseren Erziehung unter den Juden zu überreichen — da kam die Konsistorialorganisation vom 17. März 1808, welche die Vertreter der Synagogen zu Polizeidienern herabwürdigte und die die bisherige günstige Stellung der fran- zösischen Juden verkümmerte. So fiel denn ein Reif in der Frühlingsnacht und knickte alle Blüten und machte die Hoff- nungen und Illusionen Jacobsohns und seiner Freunde zuschan- den. Mit Recht sagt Heinrich Graetz in seiner „Geschichte der Juden" *) : .... Napoleon hatte alle Welt getäuscht und die Freiheit überall unterdrückt, warum hätte er den Juden Wort halten und ihre Freiheit allein unangetastet lassen sollen? .... •) XI. Bd., S. 302 ff. — 25 — So waren die französischen Juden, die Hoffnungsanker für ihre Brüder in andern Ländern, wieder herabgedrückt und in Aus- nahmestellung versetzt. Abermals waren sie der Willkür der Staatsbehörde unterworfen, ob sie ein Geschäft betreiben, sich hier und da niederlassen dürfen oder nicht . . . Der häßliche Makel, welcher den Juden von neuem angeheftet war, blieb auch an den Gleichgestellten dieses Stammes haften. Die Gegner, welche die Erhebung der Juden niederzuhalten übereifrig waren, konnten auf Frankreich hinweisen, daß dieser Stamm doch wohl unverbesserlich sein müsse, da dessen Söhnen auch da, wo sie schon lange emanzipiert waren, die Gleichstellung hat entzogen werden müssen.'' Doch hatte Jacobsohn dem Treiben der An- tisemiten in Frankreich und in den Ländern des Rheinbundes nicht ruhig zugesehen und als der Fürst-Primas des Rheinbundes zu Frankfurt a. M., Dalberg, am 30. November 1807 eine neue im reaktionärsten Geiste gehaltene „Stättigkeits- und Schutz- ordnung" für die Juden erlassen hatte, veröffentlichte er — Braunschweig am 24. Juni 1808 — einen geharnischten Pro- test gegen diese Maßregel, also betitelt: „Untertänigste Vor- stellung an Seine Hoheit den Fürst Primas der Rheinischen Kon- förderation über Höchstdessen neue Stättigkeits- und Schutzord- nung für die Judenschaft in Frankfurt am Main." Wie toll diese „Stättigkeits- und Schutzordnung" war, er- kennt man schon aus einigen Paragraphen derselben, über die Jacobsohn die volle Schale seines Hohns und Spotts ausgoß. So bestimmte z. B. der 39. Paragraph, daß in Frankfurt nicht mehr als 500 jüdische Familien seßhaft und in „Stättigkeit" aufgenommen werden durften; so lange diese Zahl voll sei, durfte durch Verheiratung keine neue Familie gestiftet werden. Er schließt seine geradezu vernichtenden Ausführungen, worin die ganze Lächerlichkeit und Absurdität der Stättigkeits- und Schutz- ordnung dargelegt wird, mit den Worten: „Stünde an der Spitze des Dokumentes nicht Eurer Hoheit Name, nie hätte ich mich überwinden können, weder flehend noch widerlegend meine Stimme dagegen zu erheben, aber mit jenem erhabenen Namen an der Stirn, was alles kann das Dokument wirken zum dau- ernden namenlosen Unglück meiner Glaubensgenossen, nicht nur in Frankfurt, sondern in ganz Europa."*) •) A. a. O., S. 30. — 26 — Nun war für ihn das Heil in Kassel unter dem Szepter Je- romes Napoleon aufgegangen. Er hegte die Hoffnung, daß von dort aus die Sonne der Humanität, der Duldung und der Juden- Emanzipation durch alle Länder deutscher Zunge sich ergießen würde. Und wie er, so fühlten auch alle Juden Westfalens; sie erwarteten viel vom König und fühlten sich zu ihm mächtig hin- gezogen. Schon bei dem erwähnten Einzüge mit der Königin Katharina in die neue Residenz Kassel besangen sie ihn in einem schwungvollen französischen Gedichte. Bei der Illumination der Residenz Kassel sah man im Schaufenster einen Israeliten mit Handschellen von ungeheurer Größe mit der Unterschrift „Unsere Ketten sind gelöst". Jacob- sohn selbst ließ zur Erinnerung an die Gleichstellung seiner Glaubensgenossen mit den Christen von dem berühmten Graveur Abrahamson aus Berlin eine goldene Denkmünze mit Emblemen und der Unterschrift prägen : „Gott und dem väterlichen Könige vereint im Königreich Westfalen'*. Das war der Mann, der den König an der Spitze der De- putation in französischer Sprache anredete, ihn als Wohltäter der westfälischen Juden preisend. In huldreicher Weise ant- wortete Jerome, aufs neue versichernd, daß seine jüdischen Un- tertanen allzeit auf seine volle Sympathien rechnen dürften. Die Deputierten erhielten vom Minister Simeon den Auftrag, über die „Veredelung'' der Juden und Verbesserung ihrer inneren und äußeren Lage zu beraten und einen förmlichen Kongreß zu bilden. Sie wählten den Geheimen Finanzrat Israel Jacobsohn zu ihrem Vorsitzenden. Dieser setzte sich mit den gelehrten Depu- tierten Frankreichs in Korrespondenz und die Gelehrten entfalteten eine überaus rührige Tätigkeit, um eine Grundlage für ein neues soziales staatsbürgerliches Gebäude für die IsraeHten zu schaffen. Der König erwartete von Jacobsohn und den westfälischen Israe- liten überhaupt, daß sie alles tun würden, um seine edlen Absichten zu verwirklichen und rechnete auf praktische Vorschläge. Zu den Beratungen des Kongresses wurden hervorragende Männer wie Jakob Hertz aus Kassel und der berühmte Advokat Michael B e r r aus Nancy herangezogen. Wie die Zeitschrift „Sula- mith", herausgegeben von David Fränkel, Herzoglich fürstUch anhaltisch - dessauischen Direktor der jüdischen Schulen, im — 27 — ersten Band ihres zweiten Jahrganges *) berichtet, habe Israel Jacobsohn bei den Beratungen „mit einer unbeschreibhchen Wärme für alles Gute und Edle, mit tiefer Einsicht und Sach- kenntnis oft stundenlang, bewundert von allen Anwesenden, un- ermüdet'* gesprochen. Freimütig durfte, wie der Präsident her- vorhob, ein jedes Mitglied seine Meinung ohne Scheu laut äußern, damit durch die Gründe für und wider die Wahrheit festgestellt und sichere Ergebnisse erreicht werden konnten. Die Debatten wurden protokolliert und die Aktenstücke später durch den Druck veröffentlicht. Auch von den in der Synagoge zu Kassel gehaltenen Predigten der damals anwesenden drei Rabbiner erschien die des Oberlandesrabbiners Lob Meyer Beriin zu Kassel gleichfalls in Druck. Der Erfolg der Bemühungen des Kongresses zeigte sich schneller, als man erwartet hatte. Bereits am 31. März 1808 erließ Jerome Napoleon ein zweites Dekret, bestehend aus 17 Artikeln **). Dasselbe verordnete die Errichtung eines jüdi- schen Konsistoriums, bestehend aus einem Präsidenten, drei Rabbinern, zwei Gelehrten und einem Sekretär, die von den Juden gewählt und von dem König bestätigt werden sollten. Die Pflichten des Konsistoriums bestanden in folgendem : 1. Sorge für die Religionsübung im allgemeinen. 2. Ansetzung und Verwaltung der gottesdienstlichen Gelder und Stiftungen; Tilgung der bisherigen Gemeindeschulden, 3. Prüfung der Rabbiner und Lehrer, Beaufsichtigung des Un- terrichtswesens, 4. Erhaltung des Gehorsams gegen die Landesgesetze, Be- stimmung der angemessenen Zahlen von Synagogen, Ge- meindesyndiken und Regelung anderer formellen, die Juden betreffenden Angelegenheiten. Ferner wurde den Juden aufgegeben, Familiennamen an- zunehmen. Der Ausdruck Schutz Jude wurde allen Behörden streng untersagt und ihnen eingeschärft, in ihren schriftlichen und mündlichen Ansprachen alles zu vermeiden, was irgendwie die Ehre und das Ehrgefühl der Israeliten verletzen konnte. *) Dessau 1808, *') A\itgeteilt u. a. in der schon genannten Zeitschrift Sulamith. 2. Jahrg., Bd. I. Heft, 1808, S. 3 ff. — 28 — Es würde mich zu weit führen, wollte ich hier die Tätigkeit und die Leistungen des westfälischen Konsistoriums, dessen Prä- sident Jakobsohn später seinen Namen in Jacobson umänderte, auf Grund der Quellen und Akten eingehend beleuchten. Die Väter der neuen Organisation der westfälischen Judenheit waren außer dem Genannten noch der bereits erwähnte Oberrabbiner Lob Meyer Berlin aus Kassel, Simon Kalker aus Eschwege, Mendel Steinhardt sowie die nach Kassel berufenen David Fränkei in Dessau — Direktor der dortigen Franzenschule und Heraus- geber der Zeitschrift Sulamith, — David Friedländer, damals Assessor und Gemeindevorsteher in Berlin, später der erste jü- dische Stadtrat in der preußischen Hauptstadt, Professor Wolff- sohn in Breslau und Jerome Heimann in Braunschweig, als Sekre- tär fungierte der christliche Staatsrat Merkel. Jakobson hatte wiederholt Audienzen bei dem König, der ihm stets mit größtem Wohlwollen entgegenkam. Als er einst im Namen seiner Glaubensgenossen den Dank derselben für alle Wohltaten, die der Monarch ihnen erwiesen, diesem aus- sprach, antwortete der König: „Die Gesetze dürfen niemanden in der Ausübung seines Kultus beengen. Wie der König seine Religion ausübt, kann jeder seiner Untertanen die seinige aus- üben." Und diese Worte trug der „Westfälische Moniteur*' in die ganze Welt. Während die auf orthodoxem oder wenigstens traditionellem Standpunkte stehenden Historiker wie Graetz-Breslau die radikale Reformtätigkeit Jacobsons verdammen, ist der reformfreundliche J. M. Jost voll Begeisterung für die Schöpfungen des Konsi- storiums. Nun, ich will die Frage, ob Jakobson zu weit gegangen war oder nicht hier nicht weiter erörtern, uns können hier nur seine Leistungen im Dienste der Juden-Emanzipation be- schäftigen und so muß denn gesagt werden, daß er die Schmä- hungen und die geringschätzige Behandlung, denen er seitens des höchst einseitigen Breslauer Geschichtsschreibers ausgesetzt ist, keineswegs verdient hat. Man muß vielmehr ohne Vorbehalt die Worte Arnheims in seiner Skizze über Jacobson*) unter- schreiben, also lautend: „In seiner amtlichen Stellung als Konsi- storialpräsident suchte er den Sinn für eine bessere Jugender- *) Braunschweig, 1867. — 29 — Ziehung zu wecken und beförderte mit allen ihm zu Gebote steh- enden Mitteln die Gründung geeigneter Schulen. Wo es die Schule galt, konnte man unbedingt auf Jakobsons tätige Beihülfe rechnen. Bisweilen übernahm er selbst den Religionsunterricht, wenn es an einem geeigneten Lehrer mangelte und verstand alsdann durch seine einfache Sprache das Kinderherz den höchsten Wahrheiten zu erschließen, häufig predigte er in den Synagogen und riß durch seine kunstlose Beredtsamkeit und seinen kühnen Gedankenflug seine Zuhörer hin. Trotz aller äußeren Auszeichnungen und hohen Ehrenämter überhob er sich nicht, sondern half überall, wo er Hilfsbedürftige fand." Daß er deutsch predigte imd deutsche Predigten empfahl, daß er deutsche Lieder und Gebete neben den hebräischen einführte, brachte die Zeloten außer Fassung. Es erging ihm ebenso wie einst Moses Mendelssohn, als er gleichfalls für deutsche Bildung und deutschen Unterricht bei seinen Glaubensgenossen eintrat. Wahrlich es gehörte viel Mut und zugleich echte nationale und patriotische Geninnung dazu, an einem Hofe, wie Kassel, wo im großen und ganzen alles Deutsche verpönt war und nicht allein die französische Sprache, sondern auch französischer Geist, französische Sitten und An- schauung herrschten, das Deutschtum so siegreich, so eindringlich und so nachdrücklich zu betonen ! Unwillkürlich denkt man an Kaiser Josef IL, der für seine humanitären und edlen Toleranz- patente den Dank nur eines kleinen Bruchteils der österreichischen Juden einheimste, während die Fanatiker Zeter und Mordio schrieen und von ihm und seinen Gesetzen nichts wissen wollten. Josef erkannte seine Brüder, aber diese erkannten ihn nicht. Dafür würdigten merkwürdigerweise christliche Denker und Forscher, wie z. B. C. W. Spieker, die großen Verdienste, die sich Jakobson um die Humanität im allgemeinen und um die Emanzipation der westfälischen Juden im besonderen erworben hat, mit Wärme. Der Genannte widmete sein prächtiges Werk „Über die ehemalige und jetzige Lage der Juden in Deutschland" (Halle 1809) dem „hochverehrten Herrn Israel Jakobson, Ge- heimen Finanzrat und Präsidenten des Königlich Westfälischen Konsistoriums mosaischer Religion", und sagt treffend in dem Vorwort u. a. : „Der edle menschenfreundliche Eifer, mit dem Sie sich von jeher Ihrer armen, unglücklichen Glaubensgenossen angenommen und ihnen durch die redlichsten Bemühungen in — 30 — verschiedenen Gegenden Deutschland ein milderes, freund- licheres Schicksal bereitet haben, die Einsicht und Liebe, mit der Sie für die Söhne Israels eine neue musterhafte Bildungsanstalt gründeten und das uneigennützige Streben, das keine Kosten und Mühe sparte, um sie mit jedem Jahre voUkommner und vielum- fassender zu machen und endlich die selbstlose, warme und edelmütige Tätigkeit, mit der Sie an der neuen Organisation des Schul- und Kirchenwesens der Bek^nner mosaischen Glau- bens im Königreich Westfalen arbeiteten, dies alles hat mich mit einer unbegrenzten Hochachtung und Verehrung gegen Sie erfüllt und als einen schwachen Beweis derselben nehme ich mir die Freiheit, Ihnen dieses Werkchen ganz gehorsamst zu- zueignen." Um seinem Hofbankier und Vertrauten, der übrigens dem König in seinen finanziellen Geldnöten gar oft beistand, einen besonderen Beweis seiner Sympathie zu geben, unternahm Je- rome mit seiner Gemahlin am 11. März 180Q eine Reise nach Seesen zum Besuche Jakobsons. Das Königspaar verlebte einen Tag bei ihm und besichtigte aufs eingehendste die berühmte Jakobson-Schule. Über diese Anwesenheit des Königspaars von Westfalen im Hause eines Juden (ein damals geradezu uner- hörtes Ereignis, das in keinem anderen deutschen Lande hätte stattfinden können) berichtet Sulamith *) wie folgt : „Auf ihrer Reise nach Braunschweig langten der König und die Königin Nachmittags vier Uhr zu Seesen an. Eine Menge Fremder war herzu geströmt und ein jubelndes „vive le Roi, vive la reine" jauchzte ihnen entgegen, indem niedlich gekleidete junge Mädchen Blumen streuten. Der Konsistorialpräsident Israel Jakobson be- willkommnete die Majestäten mit einer kurzen Anrede und wur- de, nachdem sie die ganze Einrichtung in Augenschein ge- nommen hatten, mit dem AUergnädigsten Beifall beehrt. Um sechs Uhr setzten sie sich zur Tafel, sie dauerte bis nach sieben Uhr und nun wurde von den Schülern des Instituts ein Konzert gegeben, denn einige derselben spielen Pianoforte und Violine mit nicht gemeiner Fertigkeit und etliche andere singen den lieblichsten Sopran. Nach dem Konzert wurde eine sehr artige Erleuchtung veranstaltet. Nachdem am anderen Morgen der König viele Audienzen erteilt und hierauf mit der liebenswürdigen *) II. Jahrgang, II. Bd., S. 325 ff. — 31 — Königin nebst dem zahlreichen Hofstaat gefrühstückt, auch ein ansehnliches Geschenk für die Armen hatte spenden lassen, er- folgte gegen Mittag die Abreise nach Braunschweig. Daselbst haben Seine Majestät durch den Herrn Kronoberstallmeister Dalbignak dem Präsidenten Jacobson eine sehr schöne Dose mit Brillanten zustellen lassen/' Ein Nationalfesttag für die Juden Westfalens bildete die feierliche Einweihung des gleichfalls von Israel Jacobsons ge- stifteten Jakobstempels in Seesen am 17. Juli 1810. Aus allen Teilen des Königreichs strömten die Verehrer des Genannten herbei, um dem feierlichen Akt beizuwohnen. Der König und die westfälische Regierung hatten gleichfalls Delegierte entsandt. Unter den Anwesenden befanden sich auch zahlreiche protestantische und katholische Geistliche, Universitätsprofessoren und sonstige einflußreiche öffentliche Persönlichkeiten. Der Präfekt des so- genannten Ockerdepartements, Henneberg, sowie der Maire der Stadt, der Graf von Brabeck, sein Adjunkt und die sonstigen öffentlichen Beamten aus dem Königreich erschienen in Gala- kleidung. Die Vertreter aller Stände und aller Konfessionen vereinigten sich zu einem glänzenden Festzug, der sich aus dem Saal der Jakobson-Schule zu dem Hofe des Tempels bewegte. Die Einweihungsrede hielt Jakobson, worauf der Konsistorialrat Heinemann gleichfalls sprach. Der reich und geschmackvoll er- leuchtete Tempel machte auf alle Anwesenden durch seine ar- chitektonische Schönheit, die Dekorationen und prachtvollen Ver- goldungen, die sich dem Auge von allen Seiten darboten, die zierlichen Säulen und antiken Lustres, die Blumengirlanden, mit denen alle Teile behangen waren und das bunte Gemisch des andachtsvoll lauschenden Publikums, das die Elite der Geburts-, Geistes- und Geldaristokratie Westfalens repräsentierte, einen tiefen Eindruck. Voll Begeisterung schrieb damals der Bericht- erstatter des „Sulamith" *) : „Wo hat es wohl ehedem einen ähnlichen solchen Tag gegeben, an welchem Christen und Isra- eliten einen gemeinschaftlichen Gottesdienst in Gegenwart von mehr als vierzig Geistlichen beider Religionen miteinander fei- erten, dann in traulicher Gesellschaft zusammen aßen, tranken und fröhlich waren? Nur der Toleranz unserer Tage ist es vor- ;behalten gewesen, all dieses zu bewirken und was vor noch nicht *) 111. Jahrgang, I. Bd., S. 303. — 32 — langer Zeit unmöglich schien, möglich zu machen". In der geistvollen und zündenden Rede, die Jakobson hielt, unterließ er es nicht, seinen und seiner Glaubensgenossen heißen Dank für die Juden-Emanzipation in Westfalen dem König zu Füßen zu legen. Tief und überwältigend war der Eindruck, den diese Ein- weihung des Jakobstempels in Seesen auch auf die anwesende christliche Geistlichkeit machte. Während alle Lichtfreunde und Anhänger des Fortschritts erfreut waren, daß wenigstens in einem einzigen deutschen, wenn auch unter Fremdherrschaft stehenden Staate die Emanzipation der Juden nicht allein auf dem Papier stand und einfach dekretiert, sondern auch tatsächlich durchgeführt wurde, empfanden die Reaktionäre und Antisemiten von altem Schrot und Korn großes Unbehagen über das Vorgehen des Monarchen. Dem heiteren und fröhlichen Genossen aller Weltfreuden, dem König Lustik, hätten sie nie und nimmermehr eine solche Charakterfestigkeit im Guten zugetraut. Namentlich waren die ausländischen Ge- sandten fassungslos und sie spickten daher ihre Berichte mit vielen Unwahrheiten und hämischen Verdächtigungen. Bemer- kenswert ist besonders eine Depesche, die der Historiker Arthur Kleinschmidt im Reichsarchiv im Haag fand. In dieser schrieb der außerordentliche Gesandte des Königs Ludwig der Nieder- lande, des Bruders von Jerome, A. B. G. van Deeden van Gel- der, von Kassel aus an den Minister des Äußern van der Goes unter dem 15. Februar 1808: „Die Juden erfahren im höch- sten Maße den Einfluß des in jeder Weise wohltätigen gegen ihre Nation beobachteten Systems. Nach einem neulichen kö- niglichen Beschluß sind alle in diesem Reiche wohnenden fast 30 000 in sämtliche Rechte gewöhnlicher Bürger eingesetzt und wenngleich zum großen Nachteil des öffentlichen Schatzes aller persönlichen Leistungen enthoben. Herr Jakobson, ein Jude aus Braunschweig, hat zum Dank für alle diese Wohltaten vorgestern im Namen seiner Nation feierlich eine öffentliche Rede gehalten. In den Nachbarstädten des Fürsten-Primas wird diese Nation weniger wohltätig behandelt. Wenigstens leuchtet aus den neu- esten Verordnungen Seiner Eminenz weniger Wohlwollen für sie hindurch als aus den Dekreten des Königs von Westfalen." Dem vertriebenen Kurfürsten von Hessen-Nassau hätten sich — 33 — die Haare gesträubt, wenn er seinen jüdischen Untertanen das Dienen in der Armee gestattet hätte; noch entsetzter wäre er gewesen, wenn man ihm zugemutet hätte, in seinem Heere Juden als Offiziere zu dulden. Von solcher Gedankenblässe war Jerome absolut nicht angekränkelt, es machte ihm vielmehr Vergnügen, daß junge jüdische Jünglinge in Scharen dem westfälischen Heere beitraten, nachdem sie sich davon überzeugt hatten, daß der König ein humaner und gerecht denkender Fürst war. Voll Begeisterung für die erlangte Freiheit stellten sich die militärpflichtigen jü- dischen jungen Leute vollzählig zum Ausheben für die Fahne ein. Einen berühmten tapferen Offizier jüdischen Glaubens sei- nes Bruders Napoleon, der sich in vielen Schlachten ausge- zeichnet und dafür das Kreuz der Ehrenlegion erhalten hatte, namens Woiff, berief Jerome nach Kassel und machte ihn zum Oberst seiner Elitetruppe, der Garde du Corps. Auch der Re- gimentsquartiermeister bei der königlichen Jägergarde in Mar- burg war jüdischer Konfession. Jerome sah es gern, wenn seine jüdischen Untertanen eben- so Handwerk und Kunstgewerbe betrieben wie seine christ- lichen. Er förderte auf alle mögliche Weise nach dieser Richtung tiin den Wetteifer in Israel. Viele Hausväter meldeten sich bei Handwerkern, um ihre Söhne als Lehrlinge einschreiben zu lassen Und die unter Jakobsons Leitung stehenden Seesenschen und Wolffenbüttelschen Schulen berücksichtigten den Hand- werkerstand ganz besonders. Jeden tüchtigen Israeliten, der sich in seinem Fache aus- zeichnete oder sich um den Staat verdient machte, bevorzugte er. Mit Orden, Titeln und Ehrenstellen war er sehr freigebig. So ernannte er den Bankier Moses Josef Büding in Kassel zum Munizipalrat, ebenso wurden auch anderen Israeliten Staats- und Justizämter zu Teil. Einen trefflichen Juristen Isaac Levy Lindenheim in Minden ernannte er zum Kriminalrat des Bürger- ausschusses. Jüdische Ärzte wurden angestellt; der erste Sohn Äskulaps jüdischen Glaubens war Dr. Abraham Hirsch aus Braunschweig, der bei der Garde du Corps als Militärarzt fun- gierte. Jeder wurde nach seiner Wissenschaft, seiner Kunst oder seinem Handwerk gewürdigt. Des Königs Liebling Jakobson wurde Landstand und Ritter der westfälischen Krone. Bei diesem An- Kohut, Gekrönte und ungekrönte Judetifreunde. 3 - 34 — laß sei erwähnt, daß Jakobson bald nach Erlaß des Manifestes Jeromes, das die Emanzipation der westfälischen Juden aussprach, vom 27, Januar 1808, dem König von Westfalen die schon oben erwähnte von Abramsohn geprägte Medaille, auf der die brüder- liche Vereinigung der Christen und Juden im Königreich Westfalen symbolisch angedeutet wird, überreichte. Auf der einen Seite standen die Worte „Deo et Regi Paterno" und auf der andern „Unitae in Regno Westphalia" mit der Unterschrift: „Decr, D, XXVII Jan. MDCCCVIII." Der Präsident des westfälischen Consistoriums spielte auch als Hofbankier eine große Rolle in Kassel. Er hatte durch seine Finanzgeschäfte bedeutenden Einfluß auf die Entwicklung von Handel und Wandel in Westfalen. Napoleons Gesandter in Kassel, Baron Reinhardt, hebt in seinem Bericht an den Minister Champagny in Paris die Bedeutung und den Einfluß dieser Fi- nanzautorität hervor. Er nennt ihn einen „sehr achtungswerten und sehr geachteten Handelsmann und Gründer der Schule zu Seesen.** In seinem Referat vom 15. April 1809 erwähnt er, daß auf der Reise durch ihr Land König Jerome und die Königin Katharina bei ihm in Seesen übernachtet hätten. Die Rabbiner und Vorsteher der jüdischen Gemeinden West- falens waren aufs eifrigste bemüht, ihre Dankbarkeit ihrem Wohltäter gegenüber zu betätigen und die Pflichten gegen den König und das Vaterland in begeisterten Worten zu verkünden. Unermeßlich war die Volkstümlichkeit, deren sich König Jerome seitens der westfälischen Juden erfreute und neben ihm war wohl der populärste Mann im ganzen Königreich Israel Ja- kobson, der übrigens, wie schon erwähnt, auch von auswärtigen deutschen Fürsten auf alle mögliche Weise ausgezeichnet wurde. Besonders interessant ist, daß auch eine Prinzessin, nämlich die Prinzessin Auguste, Schwester des Herzogs Karl Wilhelm Fer- dinand von Braunschweig, Äbtissin des Reichsstiftes Gandersheim, ihm in wärmster Verehrung und Sympathie zugetan war. Einen charakteristischen Zug aus dem Leben dieser edlen Frau erzählt Friedrich Karl von Strombeck, seinerzeit fürstlich lippischer Ober- appellationsrat zu Wolfenbüttel, in seinem siebenbändigen Werk: „Aus meinem Leben und aus meiner Zeit" (Braunschweig 1806). Zum Beweise dessen, wie sehr der von Graetz und seinen Nach- betern mit ungerechter Gehässigkeit befehdete Mann von — 35 — seinen Zeitgenossen geachtet wurde, mag hier davon Notiz ge- nommen werden. Die Prinzessin Auguste hatte der Einweihung der Synagoge und der jüdischen Erziehungsanstalt zu Seesen, welches Städtchen nur eine Meile von Gandersheim entfernt liegt, beigewohnt. Diese Einweihung war mit großer Feierlichkeif und sogar unter Glockengeläute vorgenommen worden. Der Fürstin und ihrem Gefolge war ein bevorzugter Sitz in der Synagoge eingeräumt worden. Nach der Einweihung fand ein Bankett statt, zu dem auch die Fürstin die Einladung wohlwollend annahm. Sie hatte eine große Vorliebe für Jakobson, erkannte mit wah- rem Enthusiasmus dessen mannigfache Verdienste und ehrte vorzüglich sein Bestreben, seine Glaubensgenossen aufzuklären. Dann sagt Strombeck wörtlich: „Mag immer die nur zu sehr in die Augen leuchtende Eitelkeit unseres Jakobson — sagte sie wohl — einen großen Teil an seinen Handlungen haben : in hohem Grade ist es doch zu achten, daß sich seine Leiden- schaft auf diese Weise äußert. Andere sind wohl auch eitel, aber beobachten Sie einmal, auf welche Art sie zu glänzen suchen. Durch ihre vermeintlichen Verdienste wollen sie andere herab- setzen, während Jakobson sich auf eine nützliche und edle Weise unsterblich macht. Ich achte den Mann auf das voll- kommenste und mein Bruder achtet ihn auch. Darum ersuche ich Sie, denken Sie darauf, wie auch wir wiederum dem Tempel- stifter eine Ehre erweisen." So ungefähr sprach die Äbtissin und dachte sich folgende Überraschung für Jakobson aus. Ich mußte in meinem eigenen Namen, (weil die Fürstin wegen des Todes des Erbprinzen in zu tiefer Trauer war, um selbst Feste geben zu können) alles, was Gandersheim und die Umgegend an aus- gezeichneten Männern und Frauen besaß, zu einem glänzenden Frühstück (morgens um 11 Uhr) einladen. Der große Kaiser- saal auf der Abtei war hierzu eingeräumt und die fürstliche Küche hatte etwas Ausgezeichnetes geleistet. — Als die Gesell- schaft nun schon mehrere Stunden froh zusammen gewesen und sich das Mahl, welches die Mittagstafel völlig ersetzt hatte, sei- nem Ende nahte, erschien die Fürstin-Äbtissin, als wenn sie der frohen Gesellschaft einen kurzen Besuch abstatten wollte, gefolgt von mehreren Damen und unter diesen von den beiden schönen und liebenswürdigen Töchtern ihres Hofpredigers, des Generalsuperintendenten Klügel. Indem sich nun Jakobson der 3* — 36 — Fürstin ehrerbietig näherte, um ihr seinen Respekt zu bezeigen, faßte sie ihn freundhch bei der Hand und die weißgekleideten Mädchen setzten ihm eine aus Eichenlaub künstlich von der Fürstin selbst gewundene Bürgerkrone auf das Haupt, wobei die Älteste mit hinreißendem Anstand folgende Verse deklamierte, die ich, auf Verlangen der Äbtissin, gern verfertigt hatte: »Dich rief, ein unterdrücktes Volk zu heben, Nach langer schwerer Zeit die Vorsehung; Verlassen brachtest Du neues Leben, Und es zu tun, dies war Dir Lohn genug, Du sahst die Flamm' erloschen, edler Mann, Und fachst sie kräftig an zu neuem Glanz, Du zeigst, was Tugend, Mut, und Arbeit kann. Darum empfange jetzt den Bürgerkranz.» Jakobson, auf das Äußerste überrascht und auf das Tiefste gerührt, fast unfähig zu reden — beugte das Knie vor der edlen Fürstin, nahm den Kranz vom Haupte und drückte ihn an seine Brust mit den Worten: „Der Kranz soll einst mit in meinen Sarg/* Auch die wissenschaftlichen Korporationen und Universi- täten des Königreichs Westfalen folgten dem Beispiel des Lan- desherrn, indem sie hervorragenden und verdienstvollen Juden die ihnen lange vorenthaltene Anerkennung zu teil werden He- ßen. So ernannte z. B. die Akademie der Wissenschaften in Göt- tingen den bereits erwähnten Advokaten Michael Berr zu Metz, den ehemaligen Sekretär des großen Synherdrins und Mitglied des westfälischen Oberkonsistoriums, zu ihrem korrespondieren- den Mitglied und die Universität zu Marburg kreierte den kö- niglich preußischen Kammerkondukteur israelitischen Glaubens, Elkan Markus Hahn, einen trefflichen Mathematiker, zum Doc- tor honoris causa. König Jerome gebührt auch das Verdienst, daß er den alten, die Juden entehrenden Eid „more judaico" infolge Vorstellung des königl, westfälischen Konsistoriums vom 24. Februar 1809 abschaffte. Die Behörden hatten den Monarchen gebeten, Be- stimmungen treffen zu wollen, wonach derjenige Israelit, der einen gerichtlichen Eid leisten müsse, denselben niemals anders als im Gericht und zwar indem er die rechte Hand auf das heilige Buch Moses lege und sein Haupt bedecke, ablege und — 37 — daß er ferner den Eid nicht anders, wie der Christ leiste, jedoch so, daß ihm vorher der Richter diejenigen Ermahnungen feier- lich vorlese, die das Gesetz erfordere, bezw. an die Strafen er- innere, die das Gesetz dem Meineidigen androhe. Die Formel ihres Eides sollte sein: „Ich schwöre vor Gott, dem Allmächtigen, dem Schöpfer des Himmels und der Erden, ohne Vorbehalt und sträfliche Auslegung der Worte, daß .... so wahr mir Gott helfe. Amen." König Jerome und seine Regierung suchten auch den west- fälischen Juden außerhalb ihres Vaterlandes durch ihre Inter- ventionen und ihre Unterstützung die ihnen vorenthaltenen Menschenrechte so viel wie möglich zu verschaffen. Ihnen war es z. B. zuzuschreiben, daß sich die Lage der westfälischen Juden im Königreich Sachsen wesentlich besserte. Die Be- schränkungen, die den Kindern Israels aus Westfalen auf den Leipziger Messen bis dahin auferlegt waren, machten humani- tären Bestimmungen Platz. Am 24. April 1810 erließ das Kon- sistorium eine Bekanntmachung, die die veränderte Lage mit freudigen Worten konstatierte. Es heißt darin u. a.*) : „Obgleich bereits seit geraumer Zeit den Westfälischen Israeliten, bey Ge- legenheit der Leipziger Messen, die meisten der ehemals erdul- deten Erniedrigungen erspart worden sind, so fanden sich doch noch einige Überbleibsel davon. Aber auch diese werden nun- mehr nicht ferner sattfinden. Vielmehr ist von Seiten des Kgl. sächsischen Ministeriums der Königl. westfälischen Gesandt- schaft zu Dresden die Versicherung erteilt worden, daß künftig kein westfälischer Israelit in Sachsen eine andere Behandlung wie jeder andere Reisende besorgen dürfe." Das Konsistorium verordnete ein Synagogengebet für den König, das in hebräischer und in deutscher Sprache in allen Tempeln des Königreichs gebetet wurde. Dies geschah auch noch beim Zusammenbruch des Thrones Jerome Napoleons. Als General Tschernitschew mit seinen Kosaken am 28. September 1813, wo bereits die Sonne des Glückes Napoleon I. im Nieder- gehen begriffen war, vor Kassel erschien, da berief Jakobson eine große Versammlung seiner Glaubensgenossen und betonte in biblischer Anwendung, daß die Gesänge Zions in lauten Tönen auf Westfalens Gebirgen widerhallen sollten. •) Sulamith, III. Jahrgang, I. Bd., S. 96ff. — 38 — Der schöne Traum, den die Juden des Königreichs West- falen sieben Jahre lang geträumt hatten, daß die ihnen bewillig- te Emanzipation für die Dauer sein und daß endlich die Er- lösung, nach der sie sich so lange gesehnt, für alle Zeit Bestand haben werde, zerstob in Nichts. Mit dem Sturze Napoleons hörte auch das Königreich Westfalen auf, und die Reaktion setzte aufs neue ein. Königin Luise von Preussen und die Juden. Die Juden Preußens haben sich auch vor ihrer staatsbürger- lichen Gleichstellung mit den Mitgliedern der christlichen Con- fessionen alle Zeit als treue Patrioten bewährt, die für König und Vaterland ihr Hab und Gut und ihr Leben zu opfern bereit waren. Dies war auch unter der Regierung Friedrich Wilhelm III. von Preußen der Fall, Inbezug auf Vaterlandsliebe standen sie keinem Angehörigen einer anderen Religions-Gemeinschaft nach. Die traurigen Schicksalsschläge, die über Preußen infolge der na- poleonischen Kriege und der Gewalt-Herrschaft des Korsen her- einbrachen, empfanden sie mit demselben Schmerz wie ihre christlichen Mitbürger, und auch sie waren bereit, zur Milde- rung der Not, die durch die Stürme und Leiden des Krieges hervorgerufen wurde, beizutragen. Was die Berliner bezw. die preußischen Juden und Jüdinnen in den Kriegszeiten, speziell in den Befreiungskriegen, für die Verwundeten und die Hinterblie- benen der Opfer der Schlachten leisteten, ist in der preußischen Geschichte ruhmvoll verzeichnet. Für die liebreizende, holde „Königsrose", die von den größten deutschen und auch aus- ländischen Dichtern mit Recht besungene Königin Luise, schwärmten die Israeliten nicht minder. Sie ergriffen jede Ge- legenheit, um ihrer Liebe, Verehrung und Begeisterung für sie durch Wort und Schrift beredten Ausdruck zu geben und auch ihrerseits vor den Stufen des Throns ihre patriotischen Gesin- nungen zu bekunden. Am 22. Dezember 1793 hielten die Prinzessin Luise von Mecklenburg-Strelitz und ihre Schwester Friderike, die mit dem Bruder des Kronprinzen, dem Prinzen Ludwig von Preußen, verlobt war, ihren feierlichen Einzug in Berlin. Die beiden bräutlichen Schwestern wurden auf dem Platze vor der Ehren- pforte, in der Nähe des jetzigen Brandenburger Tors, von den — 40 — Ober-Landesältesten und Ältesten der Berliner Israeliten, die an der rechten Seite standen und feierlich schwarz gekleidet waren, begrüßt. Sie überreichten den beiden Prinzessinnen ein von David Friedländer verfaßtes Gedicht, das auf rosenfarbenen Atlas gedruckt und in blauen, mit Silber besetzten Samt ge- bunden war. Die Chronik der Stadt Berlin hat uns die Liste des „Corps junger Kaufleute jüdischer Nation", die gleichfalls bei dem feier- lichen Einzug zugegen waren, aufbewahrt. Der Führer dieses Corps war der Hofbaurat Itzig, in dessen Palais in Schöneberg bei Berlin, von wo aus der Einzug in die preußische Haupt- stadt vor sich ging, die verlobten hohen Paare und deren Hof- staat vorher einige Minuten verweilt hatten. Dem Hofbaurat Itzig ritten die Herren Wolff Lewy und Itzig Feibel als Ad- jutanten zur Seite. Die Züge wurden von den Herren Ben- jamin Isaac Wulff, Jakob Daniel Itzig, Abraham Henoch, Hey- mann Flies, Veitel H. Ephraim und Benjamin Daniel Itzig als Offizieren angeführt. Den Schluß des ganzen Corps machte Herr Mancke. In den Zügen befanden sich die Herren Joseph Abraham Moses, Herz Beer, Coßmann Meyer, L. M. Helfft, Sam. M, Helfft, Samuel Bendix, Bendix Ezechiel, Hirsch N. Liepmann, Abraham Bernhardt, Rüben Goldschmidt, Daniel S. Lewy, Julius M. Lewy, Isaac N. Liepmann, Hartig Abr. Hertz, I. A. Achard, A. Neo, M. Neo, Elkan, Flies, Jeremias Baruch, Lion Lewy, Ezechiel Caspar, Abraham Joseph, C. B. Cohen, Henoch Moses, Jakob Benj. Wulff, A. Flies, J. B. Meyer, Joseph Neuburger, Salomon Runkel, M. Wolff, Isaak Bendix, Behrend Joseph, Joachim Abra- ham, Salomon Abraham, Assur Hirsch Cohen, Mos. Lewy, Henig Hirsch. Junge jüdische Damen aus den ersten Kreisen der Berliner Gesellschaft überreichten den beiden Prinzessinnen prachtvolle, mit einem himmelblau-seidenen Band umwundene Blumen- sträuße und ein Gedicht. Wir kennen aus den Aufzeichnungen der betreffenden Be- richterstatter auch die Namen der jüdischen Jungfrauen, die die Prinzessinnen-Bräute begrüßten und bewillkommneten. Dieselben hießen : — 41 — Lea Jakobi, Zipora Marcuse, Lea Salomon *) Klärchen Salo- mon, Ulrike Markus, Adelheid Leffmann, Rahel Henoch, Lea Flies, Gelle Liebmann, Jette Bloch, Brendel Lemos **), Julie Löwe, Luise Cohn, Jette Abraham. Auch an den zwei Tage später, am 24. Dezember, abge- haltenen prunkvollen Feierlichkeiten anläßlich der Vermählung der Prinzessin Luise mit dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm beteiligten sich die Juden und die Jüdinnen Berlins in her\'or- ragender Weise. Sie veranstalteten musikalische und theatra- lische Aufführungen patriotischen Inhalts. In den Synagogen wurden Predigten voll vaterländischen Geistes gehalten, und der bedeutsame Tag der Verbindung des zukünftigen Landesherm mit der liebreizenden Prinzessin wurde durch edle Wohltätig- keits-Akte würdig begangen. Es muß mit großer Genugtuung betont werden, daß die Bevölkerung Berlins diese Beteiligung ihrer jüdischen Mitbürger an dem erhebenden Fest überall mit lebhafter Sympathie begrüßte, und daß sich nirgends auch nur der geringste Mißton zeigte. Es mag noch erwähnt werden, daß nach dem Einzug der Prinzessinnen-Bräute vor dem Königlichen Schlosse in Berlin die Vertreter der Berliner Juden sich versammelten und von dem Kronprinzen Friedrich Wilhelm und dem Prinzen Ludwig von Preußen, den beiden Verlobten, sehr huldvoll empfangen wurden. Einer zu jener Zeit erschienenen ausführlichen Be- schreibung der Ankunft und Vermählung der Prinzessinnen- Bräute in Berlin entnehme ich die nachstehende interessante Notiz: „Die Judenschaft hatte eine Feierlichkeit zu Ehren der schwesterlichen Bräute, als dieselben in Berlin ihren Ein- zug hielten, unter Anordnung zweier Deputierten, der Herren Samuel Jonas und Aron Goldschmidt, veranstaltet. Zehn junge Leute ihrer Nation, in grünen Röcken und weißen Unterkleidern, mit Kokarden und Federbüschen an den Hüten, trugen, unter Anführung der Herren Mendel und Joel, aus dem Hause des ersteren einen Baldachin aus gesticktem Drap d'or und wurden dabei von acht jungen Mädchen, in weißen Kleidern mit grünen Girlanden, begleitet. Der Zug ging durch den Königlichen Lust- *) Später Mutter von Felix Meiidelssohn-Barthoidy. ••) Dieselbe war eine Schwester der berühmten Henriette Herz geb. Lemos, Tochter des Arztes Dr. Lemos. — 42 — garten und den Schloßhof bis auf die grüne Treppe, und dann in den Marmorsaal. Hier Heßen sie den Baldachin ruhen, bis die Durchlauchtigen Prinzessinnen-Bräute ankamen. Dann über- reichten die Demoiselles Pessel Hirsch, Gütel Goldschmidt, Fro- met Moses und Malchen Mendel den Prinzessinnen-Bräuten mit einer kurzen Anrede ein Gedicht, welches sehr gnädig aufge- nommen ward." In allen preußischen Städten, in denen später, nachdem Friedrich Wilhelm III. den Thron bestiegen und mit seiner Ge- mahlin Reisen durch die Provinzen seines Landes unternommen hatte, das Königspaar weilte, nahten sich ihm Abordnungen der jüdischen Landes-Angehörigen. In Königsberg unterhielt sich die Königin mit den jüdischen Damen, die ihr Blumensträuße über- reichten, über die Lage der Israeliten in der alten Krönungsstadt und erkundigte sich nach den führenden Persönlichkeiten unter den Israeliten. Auf dem Ball, den die Stadt Stettin bei der Anwesenheit des Königspaares im Jahre 1806 in dem dortigen Landhause gab, wurden Juden und Jüdinnen von der Königin Luise wieder- holt ins Gespräch gezogen. Ihre reizende Art, sich zu geben, gewann ihr ebenso die Herzen ihrer jüdischen, wie die ihrer christlichen Untertanen. Mit Recht konnte damals ein jüdischer Schriftsteller die Worte niederschreiben : „Ein allgemeiner Ent- husiasmus ergriff aller Herzen, und jeder empfand, daß eine solche Behandlung, mit Gerechtigkeit verknüpft, gerade das sicherste und einzige Mittel ist, die Untertanen mit den festesten Banden an den Thron zu fesseln, wenn es möglich wäre, den Gesinnungen der Bürger von Stettin noch in der Treue und Anhänghchkeit gegen den Thron einen Zuwachs zu geben." In den trübseligen Jahren des staatlichen Niedergangs Preußen, welche der Niederlage bei Jena und Auerstädt folg- ten, hielten auch die Israeliten treu zu König und Vaterland, und als das Königspaar 1809 wieder nach der preußischen Hauptstadt zurückkehrte, veranstalteten auch sie einen feier- lichen Dankgottesdienst. Das bei diesem Anlaß in dem Berhner Tempel gesprochene Gebet ist für die gute vaterländische Ge- sinnung der Berliner bezw. preußischen Israeliten bezeichnend. Als die Königin Luise in der Blüte ihres Lebens — am 19. Juli 1810 — dahingerafft wurde, beteiligten sich auch die Juden — 43 — an der allgemeinen Trauer und veranstalteten eine Feier im Tempel. Mit welchem treuen Gedenken und welcher Pietät die Ber- liner und auch die übrigen preußischen Juden dem Genius der verblichenen Königin huldigten, beweist u. a. die Tatsache, daß in der Liste der Subskribenten des Werkes, das unmittel- bar nach dem Tode der Monarchin unter dem Titel : „Luise Auguste Wilhelmine, Königin von Preußen. Ein Denkmal," Berlin 1810 bei Friedrich Braunes, erschien, auch die Namen zahlreicher Juden aus allen Städten Preußens aufgeführt sind. Lord John Rüssel und die Juden in England. Wenn wir sehen, wie heutzutage im Lande der konstitutio- nellen Freiheit und der konfessionellen Vorurteilslosigkeit, in England, die Juden auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, im Staate, in der Gesellschaft, in der Rechtspflege, in der Ar- mee und Marine usw. nicht allein eine hochgeachtete Stellung einnehmen, sondern auch mit den Andersgläubigen in jeder Be- ziehung gleichgestellt sind, erscheint es fast wie ein Märchen aus alten Zeiten, daß diese Judenemanzipation erst ein halbes Jahrhundert alt ist und daß die letzten Schranken, die die Juden von den Christen in staatsbürgerlicher Beziehung trennten, erst vor 55 Jahren beseitigt wurden. Am 2 1. Juli 1858 war der denkwürdige Tag in der Geschichte des englischen Judentums, daß das Oberhaus die Emanzipationsbill annahm und mit ihr all den reaktionären Versuchen, das Rad der Weltgeschichte in seinem Lauf zu hemmen, ein für allemal ein Ende machte. Volle 350 Jahre vergingen, ehe die Juden nach ihrer Ver- bannung unter König Eduard L wieder etliche Versuche mach- ten, sich in England niederzulassen. Erst als die königliche Au- torität erschüttert wurde und Karl L von England im Kampfe mit dem Parlament Thron und Leben verlor, wagten sie sich wieder hervor und suchten dort Fuß zu fassen. Wir wissen, daß der Fürsprecher der Juden zu jener Zeit der berühmte portu- giesische Jude Manasse ben Israel, der in Holland lebte, war. Dieser hervorragende Gelehrte und Philantrop unterhan- delte mit dem Lordprotektor Oliver Cromwell zum Zwecke der Aufhebung des Verbannungs-Dekrets. 1650 richtete er eine Eingabe an das sogenannte „lange" Parlament um Wiederauf- nahme der Juden in England, sowie um die Erlaubnis, öffent- liche Synagogen zu errichten und in ihnen zu beten, einen Be- gräbnisplatz anlegen, Freihandel treiben und den Schutz der Ge- — 45 — setze g-enießen zu dürfen. Bald darauf widmete er dem Parla- ment seine berühmt gewordene Schutzschrift „Esperanza de Is- rael" (Die Hoffnung Israels), die ein Jahr später auch ins Eng- lische übersetzt wurde. Manasse ben Israels Gesuch erhielt im Parlament die Unterstützung zweier volkstümlicher Mitglieder desselben, der Puritaner Hug Peters und Harry Martin. Ersterer war sechs Jahre Pastor in Holland und Manasse ben Israel persönlich bekannt. Als die Verhandlungen zu keinem Ziele führten, kam Manasse ben Israel selbst nach London, um die Angelegenheit seiner Glaubensgenossen mit Nachdruck zu be- treiben. Fünf Wochen nach Manasse ben Israels Ankunft rief Crom- well eine Konferenz zur Lösung der Judenfrage zusammen. Diese bestand aus Richtern, Theologen und Kaufleuten, und der Be- ratung wohnte auch Manasse bei. Der Lordprotektor sprach für ihre Wiederzulassung und verteidigte sie in warmen Worten, die gegen sie erhobenen Beschuldigungen aufs entschiedenste zurückweisend. Doch hatten auch diesmal die Beratungen kein greifbares praktisches Ergebnis. Denn keine öffentliche und ge- setzliche Maßregel wurde ergriffen, um das Verbannungsdekret aufzuheben. Die öffentliche Meinung in England zeigte sich so judenfeindlich, daß wohl aus diesem Grund der Lordprotektor es nicht wagte, seiner philosemitischen Gesinnung die Tat fol- gen zu lassen. Gegen die Schmähungen, Verdächtigungen und Verleumdungen der Fanatiker veröffentlichte Manasse ben Is- rael seine bekannte Schrift „Rettung der Juden'* (London 1656), Der berühmte deistische Schriftsteller Toland, ein besonderer Verehrer der philosophischen Königin Sophie Charlotte von Preußen, befürwortete im Jahre 1715 in einer besonderen Schrift die Gleichstellung, das heißt Naturalisierung der Juden, und im Jahre 1753 wurde dem Parlament ein Gesetzesvorschlag vorge- legt, um fremden, beziehungsweise ausländischen Juden die Mög- lichkeit zu geben, sich naturalisieren zu lassen, ohne gezwungen zu sein, das Sakrament, das heißt das Abendmahl, zu empfangen, was eine Zeitlang als eine Bestätigung der Mitgliedschaft der anglikanischen Kirche galt. Dieser Gesetzesvorschlag ging zwar ohne Opposition im Oberhause durch, aber die Volksstimmung bekämpfte aufs heftigste die Maßregel. Dennoch nahm auch das - 46 — Unterhaus das Gesetz an und so erhielt es die königliche Geneh- migung. Besaßen die englischen Israeliten nun noch lange nicht die vollen Rechte der Eingeborenen, so konnten sie doch ohne Belästigung und Hindernisse in England leben, und der hier und da von Agitatoren geschürte Haß konnte dadurch nicht ausarten, weil die staatliche Macht allen Ausschreitungen mit größter Tat- kraft begegnete. Von einer völligen Emanzipation konnte aber damals noch nicht die Rede sein, weil die Juden noch manchen Rechtsbeschränkungen ausgesetzt waren. So durfte zum Beispiel bis 1832 kein Jude in der City von London einen Laden eröffnen, da solches nur den sogenannten Freemen, das heißt den Mit- gliedern bürgerlicher Korporationen, gestattet war. Auch war es ihnen nicht erlaubt, Land zu besitzen. Vergebens waren alle Ein- gaben an das Parlament, diese Rechtsbeschränkungen aufzu- heben. Alle Petitionen wurden zurückgewiesen. In diesem Punkte galten die Kinder Israel als Fremde, selbst wenn sie in England geboren waren. Erst langsam und mühsam ging die Humanitäts- sonne endlich auch in England auf. Schritt für Schritt gelangten sie schließlich zu ihrer völligen Emanzipation, und berühmte Staatsmänner wie Macaulay und Lord John Rüssel vertraten die Sache der IsraeHten im Parlam.ent mit Feuer und Geschick. Das einzige Moment, das der Krönung des Gebäudes der Judenemanzipation noch hemmend und hindernd im Wege stand, war die Formel des Beschwörungseides, der sogenannte Deklarations- und Test-Akt. Dieser Beschwörungseid wurde durch ein Statut des Königs Georg IV. festgesetzt. Dasselbe verbannte die Juden aus einer großen Zahl von Stellungen, da die Eidesformel die Worte: „auf den wahren Glauben eines Christen^' (upon the true faith of a Christian) enthielt. Demge- mäß waren sie ausgeschlossen vom Parlament, vom jedem Zivil- und Militäramt unter der Krone, von dem Amte eines Land- richters und Magistratsbeamten, von allen Gemeindebehörden, von dem Beruf eines Advokaten, Anwalts oder Notars, von der Beteili- gung an Parlamentswahlen usw. Der sogenannte Test-Akt schrieb eine von allen Zivil- und Militärbehörden abzulegende Eides- formel vor, worin die Oberherrschaft des Papstes verworfen wurde und wonach das Abendmahl nach der Lehre der Kirche von England zu nehmen war. Dieser Probeeid schloß femer die Juden noch von den Privilegien der alten Universitäten, — 47 — vom Genuß der Stipendien und von der Lehrfähigkeit in Oxford und Cambridge aus. Trotz dieser Beschränkungen zeigte sich von Jahr zu Jahr immer mehr, daß es auf die Dauer unmöglich war, die Juden als Staatsbürger zweiter Klasse zu behandeln. So erteilte im Jahre 1832 der neue Wahlreformakt denjenigen Juden, die sich durch den darin vorgeschriebenen Besitz dazu eigneten, das Wahlrecht für die Parlamentswahlen. Ein Jahr darauf öffneten sich den Juden die Tore der alten Rechtskorporationen, und Sir Francis Goldsmid war der erste Jude, dem es gestattet wurde, als Bar- rister, das heißt als Advokat, sich niederzulassen. 1835 wurde der sogenannte Lord Campells-Akt angenommen. Dieser hatte den Zweck, gewisse Eide und Beteuerungen in verschiedenen Ge- schäftskreisen des Staates abzuschaffen und an deren Stelle ge- wisse Erklärungen zu setzen. 1845 wurde der sogenannte Lord Lindhurst-Akt angenommen, der den Zweck hatte, die Aufhe- bung des Ausschlusses der Juden von statistischen Ämtern zu bewirken. Vor dieser Zeit verlangte man den Empfang des Abendmahls zur Befähigung für gewisse Gemeindestellen und Ämter, wie unter anderen für die eines Mayor, Alderman, Re- corder, Bailiff, Common, Councilman, Councillor, Chamberlain, Treasure, Town Clarke, in allen Korporationen. Der Lord Lindhurst-Akt erlaubte den Juden statt dessen bloß die Unterzeichnung einer sogenannten Deklaration. Ein Jahr darauf wurde im Parlament den jüdischen milden Stiftungen das Recht zuerkannt, Grundeigentum zu besitzen. Wie man sieht, wurden in die einst so mächtige Zwing- burg des englischen Antisemitismus von Jahr zu Jahr immer mehr Breschen gelegt, und es galt nur noch, die parlamentarische Emanzipation der Juden herbeizuführen. Die Judenfeinde hatten jedoch sich Jahre hindurch in diese Verschanzung zurückge- zogen und boten alle ihnen zur Verfügung stehenden vergifteten Waffen auf, um die Anhänger des Fortschritts, des Rechts und der Freiheit abzuwehren und die Erstürmung auch des letzten Schutzwalls unmöglich zu machen. Einen mächtigen Beschützer hatten die Juden in dem schon erwähnten britischen Staatsmann Lord John Rüssel (ge- boren 18. August 17Q2, gestorben 29. Mai 1878) gefunden. Dieser hervorragende liberale Staatsmann nahm sich auch der — 48 — unterdrückten Katholiken an und wirkte 1828 für die Auf- hebung des Test-Akts und 1829 für die Emanzipation der Ka- tholiken. Im liberalen Kabinett Grey zum General-Zahlmeister ernannt, hatte er im Jahre 1832 die Genugtuung, seine lang- jährigen Bemühungen durch die Annahme der Reform-Bill ge- krönt zu sehen. Im Ministerium Palmerstone, worin er iMinister der Kolonien war, vertrat er das fortgeschrittenste wighistische Prinzip und war unermüdlich, der Sache der Juden zum Siege zu verhelfen. Schon im Dezember 1857 verhandelte auf seinen Antrag das Parlament über die Frage des Eintritts der Juden in das Unterhaus. Auf seine Initiative hin bildete das Parlament sich als Komitee zur Erwägung der Parlaments-Eide, wobei er den Vorschlag machte, eine Bill einzubringen des Inhalts, daß ein ins Unterhaus gewähltes jüdisches Mitglied nicht verpflichtet sein sollte, die Formel „beim wahren Glauben eines Christen" auszusprechen. Dieses sein Vorgehen entfesselte jedoch anfäng- lich und viele Monate hindurch einen Sturm der Entrüstung bei den judenfeindlichen Mitgliedern des Unterhauses, während die liberalen Abgeordneten die Ansicht vertraten, daß dem Unterhaus das Recht zustehe, die Frage der Judenemanzipation, beziehungsweise des Parlaments-Eides, auf dem Wege der Re- solution zu lösen, ohne erst die Bill in zweiter und dritter Lesung im Unterhaus und Oberhaus durchzupeitschen, und dies um so mehr, als doch das reaktionäre Oberhaus sich nie dazu verstehen werde, einem so freisinnigen Gesetz seine Zustimmung zu geben. Nun entwickelte sich Monate hindurch eine wahre Komödie der Irrungen. Immer neue Stürme wurden seitens des Unter- hauses auf die Festung des Oberhauses unternommen, aber dieses blieb unerschütterlich und verteidigte seine alten Vor- urteile und verbohrten und verknöcherten Anschauungen mit einem einer besseren Sache würdigen Heroismus. Den zeitgenössischen Berichten über die verschiedenen Sitzungen des Hauses der Gemeinen und der Lords, die sich mit der Emanzipations-Bill beschäftigten, seien die nachstehenden Daten in chronischer Folge entnommen. In der Sitzung des Unter- hauses vom 17. März stellte Lord John Rüssel (der Führer der Whigs im Unterhause) den Antrag, daß sich das Parla- ment als ständiges Komitee konstituiere, um die den parla- — 49 — mentarischen Eid betreffende Bill zu beraten. Der Abgeordnete J. Duncombe, der Antragsteller, fragte den Lord Rüssel, ob die Bill, wenn sie durchgehe, an einem anderen Ort, d. h. im Oberhaus, eines besseren Empfanges gewärtig sein könne, als ihren Vorgängern zuteil geworden sei, und ob er, wenn dies der Fall, bei seinem Entschluß verharre, auf dem Wege einer Resolution die Zulassung des israelitischen Barons Lionel Nathan von Rothschild ins Parlament zu beantragen ? Darauf ent- gegnete iRussel, was die erste Frage betreffe, die nämlich, ob er im Oberhause auf eine Mehrheit zugunsten der Bill rechnen könne, so sei es schon sehr schwer zu sagen, wer die Mehrheit im Hause der Gemeinen habe, und es würde anmaßend von seiner Seite sein, wenn er es wagen wollte, das Geschick dieses Ge- setzentwurfs in dem andern Hause vorauszusagen. Was nun die andere Frage anlange, ob der ins Unterhaus gewählte Ba- ron Rothschild trotz seiner israelitschen Religion zugelassen werden könnte, so habe ihn die Erfahrung gelehrt, daß es sehr wünschenswert wäre, wenn ein der Entscheidung von Rechtsge- lehrten zu unterbreitender, die Privilegien des Parlaments be- treffender Beschluß die allgemeine Zustimmung des Unterhauses hätte. Übrigens sei die Bill so versöhnlich wie möglich abgefaßt, und er glaube nicht, daß es an der Zeit sei, über etwaige erst später zu treffende Schritte jetzt schon zu beraten. Über die Bill wurde hierauf im Komitee diskutiert, und die verschiedenen Artikel wurden angenommen. Am 22. März setzte das Parlament seine Beratungen über die Parlaments-Eides-Bill fort. Die Annahme derselben wurde von der gesamten liberalen Partei unterstützt; mit Ausnahme des Ministers Walpole war das ganze Kabinett einstimmig für den Gesetzentwurf, und die Klausel 5 zugunsten der Juden wurde mit 297 gegen 146 Stimmen angenommen. Auch in der dritten Lesung, die am 12. April stattfand, ging die Eides-Bill durch und wurde ohne jegliche Debatte angenommen. Nun gelangte sie an das Oberhaus in zweiter Lesung. In dieser Sitzung vom 22. April erhob sich Lord Derby, der Führer der Torys, und erklärte sich gegen die vom Unterhaus ange- nommene fünfte Klausel, die den Juden den Eintritt ins Par- lament gestattete beziehungsweise ihnen erlaubte, den Parla- mentseid auch ohne die Formel betreffs des wahren Glaubens Kohut, Gekrönte und ung:ekrönte Judenfreunde. 4 — 50 — eines Christen zu leisten, geradeso wie er es schon anläßlich der ersten Lesung der Bill im Oberhaus getan hatte. Alles in allem hatten die edlen Lords bereits zum siebenten Mal die mit steigender und zuletzt überwiegend großer Mehrheit an- genommene Zulassung der Juden ins Unterhaus verworfen. Doch war diesmal die ablehnende Mehrheit im Oberhause selbst eine bei weitem schwächere als früher, nämlich IIQ gegen 80 Stimmen. Dieser Umstand veranlaßte die „Times" zu einem bemerkenswerten Leitartikel, dem wir nur den Schluß entnehmen : „W ir hoffen die Zeit zu erleben, wo einem jüdi- schen U n t e r h a u s m i t gl i e d und auch einem jüdi- schen Peer gar nichts weiter im Wege stehen wird, als die natürliche Vorliebe der Christen für Christ en." Da nun das Oberhaus die Bill an sich annahm und nur die Klausel 5 bezüglich des Judeneides strittig war, mußte die also amendierte Bill an das Unterhaus zurückgelangen. Dieses verhandelte nun am 10. Mai darüber, und die Debatte entbehrte nicht eines eigenartigen Reizes. Hier nur einiges über den Ver- lauf der Sitzung. Lord John Rüssel beantragte, daß das Unterhaus sich gegen die von dem Hause der Lords bewerkstelligte Streichung der fünften Klausel erkläre. Er hält diese fünfte Klausel, die die Zulassung der Juden ermöglichte, für den wichtigsten Teil der Eidesbill. Nach 25jähriger Erörterung der Frage habe das Haus der Gemeinen die Bill mit einer größeren Mehrheit als je zu- vor an die Lords gewiesen. In früheren Fällen seien alle Mit- glieder der Regierung im Oberhaus durchgängig oder mit ge- ringer Ausnahme für die Emanzipation der Juden gewesen, so daß der Zwiespalt zwischen einer Mehrheit des Unterhauses und Oberhauses bestand, deshalb habe der jetzige Konflikt eine ernstere Gestalt. Alle im Oberhause sitzenden Kabinetts- mitglieder, ein einziges ausgenommen, hätten jetzt gegen die Bill gestimmt, man kann demnach sagen, daß England unter einer Regierung stehe, die gegen das Prinzip der religiösen Freiheit sei. Er beantrage, daß das Haus den Amendements der Lords seine Zustimmung versage. Lord John Russeis An- trag ging nunmehr mit einer Mehrheit von 113 Stimmen durch. Hierauf beantragte der Führer des Whigs die Einsetzung eines — 51 — Ausschusses, der die Gründe für die Verwerfung der Oberhaus- Amendements aufsetzen und den Lords in einer Konferenz vor- legen sollte, welcher Antrag auch angenommen wurde. Das schon genannte Unterhausmitglied T. Duncombe stellte den Unterantrag, daß Baron Lionel Nathan von Rothschild als Mitglied im betreffenden Ausschuß ernannt werde. Für eine solche Ernennung gäbe es bereits einen Präzedenzfall aus dem Jahre 1815. Am 13. April des genannten Jahres habe das Haus nach einer Debatte mit 225 gegen 117 Stimmen beschlossen, daß Sir Joseph Jekyll, obgleich derselbe nicht am Tische des Hauses vereidigt wurde, zur Verwendung in einem Geheimausschuß ge- eignet sei. Baron Rothschild befinde sich genau in demselben Falle, und niemand werde besser die Gründe gegen die Amen- dements der Lords verstehen. (Cheers und Lachen). Rothschild sei vollkommen bereit, diese Pflicht als Ausschußmitglied zu er- füllen. Über diesen Antrag entspann sich eine lebhafte Debatte, an der sich zahlreiche Mitglieder des Unterhauses beteiligten. Unter anderem führte das Parlamentsmitglied E. Bouverie aus, daß Baron Rothschild, obschon nicht vereidigt, in jedem Unter- hauskomitee rechtmäßig mitwirken könne, nur Sitz und Stimme sei straffällig, aber alle anderen parlamentarischen Funktionen seien gestattet. Derselben Ansicht war auch Lord John Rüssel, der von Lord Palmerstone kräftig unterstützt wurde. In der Tat wurde der Vorschlag mit 251 gegen 196 Stimmen ange- nommen und der Name des Barons Rothschild sofort auf die Liste der Ausschußmitglieder gesetzt. Dieses Vorgehen des Unterhauses verwandelte die christ- lich-fromme Denkungsart der preußischen reaktionären Blätter jener Zeit in gärendes Drachengift. Monatelang dauerten die Konferenzen zwischen den Aus- schußmitgliedern des Unterhauses und denen des Oberhauses über die Judenbill, ohne daß es jedoch gelingen wollte, den Widerstand der steifnackigen Lords zu brechen ; doch bröckelte die Opposition derselben immer mehr ab, und als sie sahen, daß ihr Widerstand doch nutzlos war, dachten sie nur daran, sich einen anständigen Rückzug zu sichern. Die ganze Eng- herzigkeit, die kleinliche Gesinnung und die gehässigen Absichten der Torrys traten dabei in eklatanter Weise zutage. Für die Herren kam es hauptsächlich nur darauf an, den Schein zu 4* — 52 — retten, darum machten sie die krampfhaftesten Anstrengungen, um ein wenig Aufschub zu erlangen und eine neue Form zu schaffen. Nach zehnjährigem Widerstand gegen die Volkskammer gaben die Lords endlich zögernd nach, zumal sie dessen immer mehr inne wurden, daß sie, deren Autorität aufs tiefste er- schüttert war, in einem weiteren Kampfe mit dem Unterhause nicht allein die Kürzeren ziehen, sondern zugleich auch an ihrem eigenen Untergange arbeiten würden. Am 31. Mai gab es aufs neue eine Sitzung im Oberhaus, auf deren Tagesordnung wieder der Parlamentseid stand. Der Earl von Duncan stellte den Antrag, beide Häuser des Par- laments zu ermächtigen, die gegenwärtig unerläßliche Eides- formel durch eine auf einen speziellen Fall angewandte Reso- lution zu modifizieren. Auf diese Weise könnte das Haus der Gemeinen die Auslassung der den Juden anstößigen Stellen des Eides verfügen. Seit 1833 seien zehn Gesetzentwürfe vom Unter- haus an das Oberhaus gelangt, die die Beseitigung der Rechts- beschränkung bezwecken, denen die Juden noch unterworfen seien. Die Mehrheit, mit welcher sie im Unterhause durchge- gangen, habe sich fortwährend gesteigert, und es würde un- klug sein, sich einem Grundsatz, der sich schon so stark zur Geltung gebracht habe, noch länger zu widersetzen. Lord Derby räumte darauf ein, daß die stets wachsende Mehrheit im Hause der Gemeinen zugunsten der Juden zwar ein sehr bemerkens- wertes Moment sei, doch müsse er in Abredie stellen, daß sich durch das Ergebnis der Abstimmung im Unterhause auf die englische Volksstimmung schlußfolgern lasse. Die große Masse der Nation sei nach seiner Ansicht vollständig gleichgültig da- gegen, und selbst die Juden hätten kein bedeutendes Interesse an den Tag gelegt. Er hoffe, das Haus der Gemeinen würde sich nie zu einem verfassungswidrigen Verfahren hinreißen lassen, oder den Versuch machen, durch eine einfache Resolution das Landesgesetz zu durchbrechen. Lord Lyndhurst stellte hierauf den Antrag, daß das Haus nicht auf seinen früheren Amendements zu der Eidesbill bestehen möge, hervorhebend, daß die Eides- formel, durch welche die Juden vom Parlament ausgeschlossen seien, ursprünglich gar nicht gegen sie gerichtet gewesen wäre. Im Oberhause kam es diesmal noch nicht zu einer Ab- stimmung, vielmehr wurde die Erledigung der Eidesbill ver- — 53 — tagt. Im Laufe des Monats Juni richtete Lord Derby, der nunmehr keinen anderen Ausweg fand und es nicht auf einen äußersten Kampf mit dem Hause der Gemeinen ankommen lassen wollte, an seine Anhänger ein Rundschreiben, worin er die Absicht kund gab, sich der Zulassung der Juden zum Par- lament nicht länger zu widersetzen. Obschon er aber die politische Zweckmäßigkeit dieses Schrittes einräumte, konnte er nicht umhin auszusprechen, daß die Juden eigentlich nicht im Parlament sitzen dürften. In der Sitzung vom 21. Juli endlich ging im Oberhause die Bill Lord Lucans durch, die die Zulassung jüdischer Parlamen- tarier zum Parlament für gesetzlich erklärte, auch wenn sie den betreffenden Passus bei der christlichen Eidesformel weg ließen. Zwar nahmen die „Edelsten der Nation" die Bill nur in der Form an, daß es das Recht, nicht aber die Pflicht der beiden Häuser sein solle, die Juden bei ihrem Eintritt im Eide die Formel „auf den wahren Glauben eines Christen" zu erlassen, aber dies war nur Silbenstecherei, und dieses Schachern und Feilschen mit dem Rechte sollte nur dazu dienen, ihre Niederlage nicht so auffällig zu machen. In der Unterhaussitzung vom 26. Juli be- dauerte zwar der große englische Staatsmann Lord Palmerston, daß das Oberhaus es nicht über sich habe gewinnen können, ganz und gar die Bill in der Fassung des Unterhauses anzu- nehmen, doch erheische die Gerechtigkeit in so hohem Grade die Zulassung der Juden zum Parlament, daß er sich diese erste Abschlagszahlung schon gefallen lassen wolle. Die endgültige Annahme des Gesetzes im Unterhause in der dritten Lesung erfolgte mit einer Mehrheit von 74 Stimmen (125 und 55), unter den Kundgebungen leidenschaftlicher Bei- fallsbezeugungen seitens der Mehrheit. Der Tagesordnung ge- mäß sollten nun auch die Motive, durch welche die Lords ihr früheres Festhalten zu den Amendements der Judenbill zu be- gründen suchten, noch zur Sprache kommen, aber das Unter- haus beschloß folgende zwei Resolutionen, die John Rüssel einbrachte, anzunehmen: 1. Das Haus hält es für nicht nötig, die Gründe zu prüfen, um derentwillen die Lords auf Aus- schließung der Juden aus dem Parlament bestehen, da Ihre Herrlichkeiten durch eine Bill der gegenwärtigen Session für — 54 — das Recht von Personen des jüdischen Bekenntnisses, im Parla- ment zu sitzen, in der Registratur Sorge getragen haben. 2. Das Haus gibt seiner von der Ansicht der Lords in bezug auf ihre Amendements der besagten Bill abweichenden Meinung keine weiteren Folgen. Jedenfalls war der 21. Juli 1858 epochemachend im par- lamentarischen Leben der Juden in England. Das Haus der Gesetzgebung, das bisher ihnen verschlossen war, tat sich vor ihnen weit auf, und auch die letzte Schranke, die die Juden von den Christen in staatsbürgerlicher Beziehung bisher ge- trennt hatte, war für alle Zeiten gefallen. Mit Recht erinnerte man von jüdischer Seite daran, daß die Zulassung der Juden zum Parlament für den Kontinent eine noch größere Wichtigkeit als für England selbst gehabt habe. In Großbritannien standen die großen Prinzipien der Ge- wissensfreiheit, der Preßfreiheit und der persönlichen Freiheit längst unumstößlich fest, und es habe nur gegolten, noch ein- zelne Ruinen des Mittelalters hinweg zu räumen, die die Kon- servativen Englands so gern auf immer konserviert hätten. Auf dem Kontinent sei dies anders. Jene Grenze sei da weder unbestritten noch überhaupt schon die wirkliche Grund- lage des Lebens. Die geschichtliche Unduldsamkeit und Be- schränkung bestehe daselbst noch in Kraft, und es müßten noch kräftige Angriffe gegen diese mittelalterlichen Grundlagen des Lebens geführt werden. Für Mitteleuropa falle die Zu- lassung der Juden ins englische Parlament wie scharfe Axthiebe auf alle, die die Juden von allem staatlichen Leben fem halten wollen, die mit großem Pomp eine neue staatliche Theorie ver- kündigen, in der die Juden allein innerhalb des Handels und der Industrie einen Platz haben, und selbst Wissenschaft und Kunst ihnen nur als Dilettanten geöffnet sein sollen. Für diese Leute gab es daher kein größeres Ärgernis. Der Eintritt des ersten parlamentarischen Mitgliedes aus jüdischem Stamme, des wiederholt erwähnten Barons Lionel Nathan von Rothschild, ins Unterhaus, ließ nun nicht mehr lange auf sich warten. Einem zeitgenössischen Bericht über dieses interessante und bedeutsame Ereignis sei das Nach- stehende entnommen : — 55 — »Ich war im Unterhause zugegen, als der Baron von Rothschild den Eid leistete und seinen Sitz einnahm. Es war eine Szene, deren historische Bedeutsamkeit sich jedem Anwesenden unwillkürlich aufdrängte. Im Saale herrschte eine feierliche Stille, die nur bei außerordentlichen Veranlassungen das gewöhnliche Geräusch und Durcheinander zu ersetzen pflegte. Auf den Gesichtern ruhte ein Ernst, der keinen Zweifel darüber ließ, daß ein großes Prinzip zur Verhandlung und zur Entscheidung komme. Und als Lord John Rüssel, der ausdauerndste Vertreter jüdischer Gleichstellung, den Antrag be- fürwortete, daß fortan Juden mit Weglassung der Worte »auf den wahren Glauben eines Christen«^ in der Eidesformel als Mitglieder des Unterhauses zu- gelassen werden sollen, entspann sich eine kurze, aber höchst charakteristische Debatte, deren würdevoller Ton der Gelegenheit völlig entsprach. Sie war ein gedrängtes Resümee der hauptsächlichen Ansichten, die während des elf- jährigen Kampfes von beiden Seiten vorgebracht worden waren. Sie faßte in ein leicht überschauliches Bild und in einen abschließenden Rahmen die mannigfaltigen und zerstreuten Einzelheiten der früheren bewegten Verhand- lungen. Die Opposition hatte der Anzahl nach das Übergewicht der Sprecher. Mit einem richtigen Takte und im Geiste echter Toleranz vergönnten es die Liberalen, die des praktischen Erfolges nun sicher waren, ihren Gegnern, noch einmal entschieden ihre Gesinnungen auszusprechen und gleichsam zu Protokoll zu geben. War es diesen zu verargen, wenn sie zum letztenmal, aber >mehr in Kummer als in Ärger«, den Fall des zwölf hundertjährigen britischen Christentums betrauerten, und ihren Protest gegen einen Schritt einlegten, der nach ihrer redlichen Ueberzeugung Unheil über den Staat bringen müsse? Aber kein Wort zur Herabsetzung der Juden ließen sie fallen; ja sie wetteiferten förmlich in Lobreden über ihre geistigen und moralischen Eigen- schaften; sie sprachen mit Begeisterung von dem »interessanten Stamme«, dem die Welt so Großes verdanke, und vor allem verweilten sie mit fast heftigem Nachdrucke auf den Tugenden des Mannes, dessen Zulassung das Haus so lange beschäftigt hatte. Sie wollten sich auf jede Weise von dem Vorwurf persönlicher Antipathien rein erhalten; sie wollten ihren Widerstand auf ihre Überzeugungen und Grundsätze allein zurückgeführt sehen. Damit aber auch die freisinnige Meinung einen Ausdruck fände, nahm der greise Fox, der be- rühmte unitarische Prediger, das Wort und erklärte in wenigen kernigen Sätzen sein Entzücken darüber, daß er den glücklichen Augenblick erlebt habe, einen neuen Triumph der Aufklärung zu sehen, und rief unter lebhaftem Beifall des Hauses aus: es sei unmöglich, gegen die völlige Gleichstellung der Juden vom Standpunkte der Religionsgeschichte etwas einzuwenden, denn die Moral des Neuen Testaments sei der Moral des Alten entlehnt. — Die Abstimmung erfolgte. Von Lord John Rüssel und John A. Smith eingeführt, nahte sich Baron Rothschild dem Tische des Hauses; er sprach die gewöhn- liche Eidesformel mit Ausnahme der Schlußworte, küßte die hebräische Bibel mit bedecktem Haupte, und nach der üblichen Reverenz vor dem Sprecher des Hauses, der ihm herzlich die Hand drückte, nahm er seinen Sitz neben Lord John Rüssel und Roebuck auf der liberalen Seite der Kammer. Und damit er gleich anfangs seine Unabhängigkeit wie seine Gesinnung bewähre, gab er bei der ersten Abstimmung sein Votum gegen den Antrag, der es — 56 — Parlamentskandidaten gestattet, Wagen für die Wähler zu bezahlen. — Eines Studiums wert war während dieser Szene das bleiche Antlitz Disraelis, das seine Abstammung deutlich genug verrät. Stolz auf die Rasse, der er ent- sprossen ist, und überzeugt von der großen Zukunft, die ihr noch bevorsteht, durfte er sich des Bewußtseins freuen, zu einem neuen Siege derselben bei- getragen zu haben.« Übrigens wurde in den Jahren 1866 bis 1868 ein den Israeliten abnehmbarer Parlamentsschwur für das Oberhaus so- wohl als für das Unterhaus angenommen, und 1885 öffnete sich das Tor selbst des stolzen Oberhauses den Juden, und es war wieder ein Rothschild, der diesen Sitz unter den Peers des Reiches einnahm. Seit jener vollständigen Emanzipation haben sich die Juden Englands im Staatsleben aufs glänzendste bewährt. Von Benja- min Disraeli, der als Lord Beaconsfield so lange die Staats- geschäfte leitete und sowohl als Politiker wie als Redner zu den glänzendsten Erscheinungen des englischen Parlaments ge- hörte, soll hier nicht die Rede sein, weil er schon im Alter von zwölf Jahren aus dem Schöße des Judentums austrat; hier sei nur jener hochbegabten und hochverdienten jüdischen, das heißt ungetauften, Parlamentarier Erwähnung getan, die durch ihre parlamentarische und politische Wirksamkeit soviel zum Ruhme des englischen Verfassungslebens beigetragen haben. Es sind dies unter anderen die folgenden Persönlichkeiten : Montague, Arthur Cohen, Lionel Cohen, Sir Julian Goldsmid. Auch jüdische Minister gab und gibt es in verhältnismäßig reicher Zahl. Bekanntlich wählte die City von London schon vor der völligen Emanzipation jüdische Sheriffe. Der erste jüdische Sheriff war Sir David Salomons; von den übrigen seien hier noch hervorgehoben: Sir Moses Montefiore, Sir Benjamin Samuel Phillips und Sir Robert Carden. Das war auch bezüglich der Lordmajore der Fall. Einer der letzten Lordmajore von London war der Alderman Sir Henry Aaron Isaacs, durch dessen Mutter von der spanischen Familie Mendoza abstammend. Daß die Weltgeschichte das Weltgericht ist, zeigt sich auch in diesem Falle. Nachdem 1290 die Juden aus England vertrieben wurden, bekleidete sechs Jahrhunderte später ein Israelit das höchste Amt in der Weltstadt London ! Auch Isaacs wurde früher, das — 57 — heißt bevor die Parlamentsbill durchging, in das Parlament ge- wählt und nahm später mit anderen Glaubensbrüdern seinen Sitz darin ein. Isaacs war ein großer Philantrop. Sein Werk- chen „Sounds versus Signs" hat besonders dazu beigetragen, daß die deutsche Methode, die Taubstummen sprechen zu lernen, in England Eingang fand. Auch in Provinzialstädten wurden Juden zu Majoren ernannt: unter anderen in Bradford und Yorkshir Charles Semon, der später sogar Adjunkt des Lord-Leutenants, das heißt Statthalter der großen Grafschaft Yorkshir wurde. In der jüdischen Justiz gab es und gibt es eine große An- zahl jüdischer Advokaten und Anwälte, so zum Beispiel den Sir George Jessel, Vizekanzler der Universität London, der als Master of the Rolls (Reichsarchiv) ein hochstehendes Mitglied des Richterkollegiums war. Nicht minder dienten viele namhafte und verdienstvolle Offiziere besonders in der Artillerie und im Geniekorps im bri- tischen Heere, und ihre Zugehörigkeit zum Judentum hat ihnen in ihrem Avancement nie geschadet. Bei diesem Anlaß sei schließlich zur Illustration des Schwin- dens antijüdischer Vorurteile in England und um die Toleranz des englischen Volkes zu kennzeichnen, noch einiges über die Stellung der Juden gegenüber dem englischen Adel hier mit- geteilt. Peers waren beziehungsweise sind : die Rothschilds ; Baronets: Goldsmid, Jessel, Montefiore, Salomons und Knigths: Barrow, Ellis, Phillips, Samuel, Sassoon, Simon, Magnus, Vogel. Neben diesen jüdischen englischen Adligen gibt es noch zahl- reiche Aristokraten, die von väteriicher oder mütterlicher Seite jüdischer Abstammung sind, wie zum Beispiel die Herschell, die Lopes, die Samuelson, die D'Aguilar, die Wolff. Von Moses Mendes gibt es in der englischen Aristokratie durch Heirat mit Jüdinnen mehrere Abkömmlinge, unter anderen Sir Francis Haed. Der Reverend George Herbert, Bruder des Grafen von Carnarvon, heiratete eine Enkelin von Moses Mendes, der Admiral Keith Stewart, Bruder des Grafen von Galloway, heiratete eine Tochter von Baron D'Aguilar. Eine Verwandte der Mendes-Familie und ihre Urenkelin ward die Gemahlin von Tweeddale, eine andere Frau von der Familie Mendes heiratete einen Vicomte von Galway, und von ihr stammt der Lord Hougthon ab. — 58 — Die Erfahrung seit der völligen Emanzipation der Juden in Großbritannien hat gelehrt, daß weder ihr Betragen noch ihre Gewohnheiten sie der vollständigen Gleichstellung mit ihren christ- lichen Mitbürgern unwürdig machten, und daß sie an der Wohl- fahn ihres Vaterlandes ein ebenso warmes Interesse wie die anderen Klassen der Nation nehmen. Sie verdanken ihre heutige einflußreiche Stellung und ihre völlige Gleichstellung mit den übrigen Staatsbürgern ihrem aufrichtigen Patriotismus, sie sind und fühlen sich nicht als Fremde, sondern als echte Briten, und viele unter ihnen sind womöglich noch englischer als die Engländer selbst. Das englische Volk hat schon längst seine alten Vorurteile gegen die Juden geopfert, und nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch im Geiste der britischen Nation ist die bürgerliche Gleichstellung der Juden in Großbritannien eine vollständige und unerschütterliche Tatsache für alle Zeiten geworden. König Maximilian II. von Bayern. Am 28. November IQll war ein Jahrhundert verflossen, seitdem einer der weisesten und edelsten Könige, die je auf dem Thron gesessen, Maximilian II. von Bayern (f 10. März 1864), das Licht der Welt erblickt hat. Seine nur kurze, 16 Jahre dauernde Regierung war eine Kette segensreicher Taten. Ein Friedensfürst ersten Ranges, ein mächtiger Förderer der Kunst, Wissenschaft und Literatur, ein selbständiger Denker, war sein ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet, sein Volk glücklich zu machen und ihm die Segnungen des Friedens und der Wohlfahrt und die Früchte geistiger Bildung und geistigen Fortschritts zukommen zu lassen. Nichts war dem Herrscher so sehr verhaßt als konfessionelle Zwietracht. Obschon über- zeugter und frommer Katholik, schützte er mit aller Macht die evangelische Kirche und machte keinen Unterschied in der Wertschätzung der weltlichen und kirchlichen Organe derselben und der der katholischen Kirche. Dem Dank der Protestanten gab der Dekan Dr. Mayer in der Rede Ausdruck, die er beim Gedächtnisgottesdienste des verewigten Königs in der protestan- tischen Stadtpfarrkirche zu München am 16. März 1864 hielt. Er sagte dort unter anderem : „. . . . Der König hat seinem Volk viel Gutes getan auf jedem Gebiete und nach allen Rich- tungen des Lebens. Es sind uns unter seiner Regierung treff- liche Gesetze, deren Segen bereits gefühlt wird, geschenkt wor- den. Kunst und Wissenschaft haben in dem Könige einen Freund und Schirmherrn gefunden. Die drei Landes-Universitäten und namentlich die Universität hiesiger Stadt (München) werden da- von zu rühmen wissen. Kirche und Schule sind geschätzt und gepflegt worden, nirgends mehr und nirgends besser als bei uns. Der König hing treu und mit aller Entschiedenheit an seiner Kirche, aber er hat auch der evangelischen Kirche mit — 60 - landesväterlicher Huld kräftigen Schutz und Schirm geschenkt und sich unsere Kirche zu innig-stem Danke der, solange ein Odem in uns ist, nicht verstummen soll, verpflichtet." In der Tat hat Maximilian U. immer das Wahre, Edle, Gute und Hohe angestrebt, ist stets für Recht und Gerechtig- keit in die Schranken getreten und hat sein Volk ohne Unter- schied der Konfession über alles geliebt. Von ihm rührt das schöne Wort her: „Ich will Frieden haben mit meinem Volk." Hier hat er seine innersten Gedanken kundgegeben, denn er war ein Friedensfürst, nicht bloß in politischer, sondern auch in religiöser Beziehung. Infolge der politischen Wirren und der revolutionären Vor- gänge von 1848 mußte, wie man weiß, König Ludwig I. von Bayern am 30. März 1848 abdanken. Ihm folgte sein Sohn Maximilian II. auf den Thron. Dieser umgab sich mit frei- sinnigen Räten und war bemüht, die Sünden der Vergangenheit, soviel es an ihm lag, nach Kräften zu sühnen. AUsogleich war auch sein Entschluß gefaßt, die Juden in Bayern, die damals noch unter Ausnahmegesetzen standen, zu emanzipieren. Be- vor er dies tat, wandte er sich an seinen vertrauten Ratgeber und Lehrer in der Philosophie, den berühmten Denker Pro- fessor V. Schelling in Berlin, ihn um sein Gutachten bittend. Der hochinteressante Brief wurde erst im Jahre 18Q0, und zwar in dem Werke „König Maximilian II. von Bayern und Schelling. Briefwechsel. Herausgegeben von Dr. Ludwig Trost und Dr. Friedrich Leist" *) veröffentlicht und lautet wörtlich : „Nymphenburg, den 13. November 1848. Lieber Geheimrat! Ich benutze ein paar freie Augenblicke, Ihnen diese Zeilen zu schreiben und Ihnen beiliegenden Entwurf zu einem Gesetze, die Emanzipation der Juden betreffend, zu übersenden. Recht dankbar wäre ich, wollten Sie Mir, sobald als nur immer mög- lich, Ihre Ansicht über diese so wichtige und folgenreiche Frage mitteilen. Nicht mehr ganz deutlich erinnere Ich Mich einer von Ihnen getanenen Äußerung über das Los, das Schicksal des •) Stuttgart 1890, Seite 160. — 61 — jüdischen Volkes. Der Minister Lerchenfeld glaubt, daß dies Gesetz ein Postulat der Zeit und zugleich das beste und sicherste Mittel sei, die Israeliten zu ruhigen Staatsbürgern zu machen. Ich bin Mir nicht klar über diesen Punkt. Auch vom welt- historischen, philosophischen Standpunkt wünschte Ich diese Frage von Ihnen, verehrter Lehrer, beurteilt zu hören. — Ge- denken Sie in Ihrer besten, heiligsten Stunde Meiner, beten Sie für Mich, daß der Herr Mir sein Licht, seinen Geist sende, sowie Liebe und Kraft, seinen Willen zu erkennen und zu voll- bringen ! Leben Sie wohl, schreiben Sie bald Ihrem treuen Schüler und Freunde Max. Obige Sache hat so große Eile, weil die Minister wünschen, während der jetzt beginnenden Wahlen die Gesetzesvorschläge öffentlich in der Presse zu besprechen,** In der Tat erhob der bayrische Landtag den von der Regierung Maximilians II. eingebrachten Entwurf einer Juden- Emanzipation zum Gesetz, und seitdem sind die Israeliten in Bayern den Christen durchaus gleichgestellt. Diesen Gefühlen der Israeliten hat nach dem Ableben des Monarchen der damals in München amtierende Rabbiner Dr. Aub in der Predigt, die er in der Synagoge zu München am 24. März 1864 anläßlich des Trauergottesdienstes hielt, Ausdruck gegeben. Mag aus dieser nur wenig bekannten Predigt, die am besten die Stellung des Königs von Bayern zu seinen israelitischen Untertanen kennzeichnet, hier einiges auszugsweise wiederge- geben werden : „Wie ein Blitz aus heiterem Himmel**, so führte Rabbiner Dr. Aub unter anderem aus, „hat der unerwartete Schlag (näm- Hch der am 10. März 1864 erfolgte Tod des Königs) das bayrische Volk im allgemeinen und die Israeliten insbesondere getroffen. Allgemein, wie nun die Trauer, ist vor wenigen Wochen noch die Hoffnung gewesen, daß Bayern noch viele Jahrzehnte von dem milden Szepter seines Monarchen be- glückt werden würde . .** Nachdem der Prediger der herrlichen geistigen, seelischen und Gemütseigenschaften des Verblichenen gedacht, bemerkte er, daß Maximilian II. ein gütiger und liebevoller Vater gegen alle seine Landeskinder ohne Unterschied des Standes und des - 62 — Glaubens gewesen sei. Viele Beweise seiner Güte seien in die Öffentlichkeit gedrungen, noch mehr aber seien im stillen geübt worden. Er sagte dann wörtlich : „Ich kann mir's nicht versagen, nebenbei zu erwähnen, mit welcher Liebenswürdigkeit und Herablassung der Hochselige per- sönlich gegen mich sich benahm; wie Höchstderselbe zweimal (am 14. Februar 1856 und am 20. November 1857) mich auf der Straße ansprach und huldvollst sich erkundigte nach meiner We- nigkeit Wohl und nach dem Wohle meiner Kirchengemeinde! — Besonders hervorheben aber muß ich, daß mir das Glück zuteil wurde, in einer mir bewilligten Audienz (am 11. Dezember 1854) von dem gütigen Monarchen — bezüglich einer damals vom Händelsministerium ergangenen für Israeliten günstigen An- ordnung, von welcher der König in seiner Herzensgüte gesprochen — in der sanftmütigsten Weise folgende Königliche Worte zu vernehmen: „Ich will nicht, daß einer Meiner Untertanen ge- drückt werde, sie sind Mir alle gleich!" — Das sind goldene Worte, die uns schon zu ewigem Danke gegen den verblichenen König verpflichten!" König Maximilian sei ein gerechter Herrscher gewesen, von dem man mit dem Propheten Hiskiah sagen könne, er habe das Rechte getan, und zwar von ganzem Herzen. So gütig und liebe- voll er auch gewesen und so gern er auch jeden Herzens- wunsch erfüllt und jede Bitte gewährt habe, so habe ihn doch seine Herzensgüte nie verleitet, dem Recht und der Gerechtig- keit Eintrag zu tun. Nicht nur die Verfassung des Landes, an der er so treu und gewissenhaft festgehalten habe, sondern auch die göttlichen Gesetze der Menschlichkeit und der Ge- rechtigkeit seien ihm über alles heilig und ehrwürdig gewesen, und soviel er an den bayrischen Gesetzen habe verbessern können, um sie mit den Gesetzen der Gerechtigkeit und der Liebe in Einklang zu bringen, das habe er während seiner 16jäh- rigen, ach nur so kurzen Regierungszeit mit ganzem Herzen getan. Davon könnten die Israeliten noch besonders rühmliches Zeugnis ablegen, da sie die gesetzlichen Segnungen, die von Maximilian II. ausgegangen seien, schon lange in vollem Maße genießen. Auch ein wahrheitsliebender Regent sei der König gewesen, Daß es dem Fürsten, besonders dem zur Regierung berufenen, — 63 — schwerer als allen anderen Menschen werde, die Wahrheit kennen zu lernen, sei klar, denn er sei von der Wiege an häufig von Menschen umgeben, die ein Interesse daran haben, ihm die Wahrheit zu verhehlen, aber der verewigte Monarch habe auf- richtig die Wahrheit geliebt und die Lüge und Augendienerei verachtet. Er habe der Wahrheit um so freier ins Auge blicken können, als seine Menschenliebe und seine Gerechtigkeit ihn nichts haben fürchten lassen. Aub schloß mit den Worten: „Darum fühlte jeder Bayer einen so gewaltigen Riß in seinem Herzen bei der Nachricht seines Todes; darum bestreben sich alle. Hohe und Niedrige, ihm Ehre zu erweisen an seinem Grabe, das ganze Vaterland und besonders die Bewohner unserer Stadt, wie einst ganz Juda und Jerusalem beim Tode des Königs Hiskiah. Denn wie dieser, tat auch unser König das Gute, Rechte und Wahre und war uns allen ein gütiger, liebevoller Vater, ein gerechter Herr- scher und ein wahrheitsliebender Regent .... Doch dem Herrn sei Preis und Dank, auf diesen Sonnenuntergang ist keine Nacht eingetreten, sondern ein frühes Morgenrot angebrochen. Wie zu den Tagen Hiskiahs die Sonne um zehn Stufen zurückgetreten, so ist sie bei uns aus dem hellen Mittag in den frühen Morgen zurückgewichen. Statt des männlichen Vaters ist uns ein junges Reis aus seinem Stamme entsprossen, ein grüner Zweig aus den edlen Pflanzen des angestammten Herrscherhauses erblüht. Sein Sohn, des edlen Vaters würdig, ward uns von der Vorsehung gegeben. Wir haben alle Ursache zu hoffen, daß der Sohn, der das Vaterland bereits mit seinen Erstlingsstrahlen *) freudig und tröstend berußt, des vollendeten Vaters würdig, uns das sein wird, was der Vater uns war, und daß auf ihm ruhen wird der Geist Gottes, der Geist der Gerechtigkeit und der Liebe und der Wahrheit." •) Dies hatte Bezug auf das Wort des jungen Königs Ludwig II. nach dessen Eidesleistung. Der deutsche Kaiser Friedrich III. Am 15, Juni 1888 hauchte Kaiser Friedrich III. seine edle Seele aus. Seine Witwe, die Kaiserin Friedrich, meldete das Ableben des erlösten Dulders ihrer Mutter, der Königin Vik- toria von England, mit den erschütternden Worten : „Um Deinen Sohn weint diejenige, die so stolz und glücklich war, seine Frau zu sein, mit Dir, arme Mutter. Keine Mutter besaß solchen Sohn." Prinz Friedrich Wilhelm war ein von der Vorsehung mit allen Gaben edelster Menschlichkeit ausgestatteter Jüngling; und die ihm seitens seiner erhabenen Eltern zuteil gewordene Er- ziehung trug nicht wenig dazu bei, die vorhandenen Keime ide- alster Gesinnung zu üppiger Blüte gelangen zu lassen. Seine militärischen und bürgerlichen Erzieher und Lehrer, wie der General von Unruh und Ernst Curtius, der später berühmt ge- wordene Archäologe, sowie sein langjähriger Flügeladjutant Helmut von Moltke, der unsterbliche Schlachtendenker und Schlachtenlenker, haben in die empfängliche Seele des hohen Fürsten die Liebe für die Menschheit, das Pflichtgefühl und die Begeisterung für das Göttliche gleichfalls gesät. Prinzessin Augusta übergab ihren jugendlichen Sohn Ernst Curtius mit der Weisung, daß Friedrich Wilhelm stark an Geist und Leib aufwachse, um den ungeheuren Aufgaben der Zeit Rechnung tragen zu können. Sie lebte ganz in der Zukunft ihres Sohnes, und ihr eifrigstes Bestreben war darauf gerichtet, aus dem Knaben nicht allein einen ausgezeichneten Fürsten, sondern auch einen trefflichen Menschen zu machen. Diese Arbeit wurde dem Erzieher sehr erleichtert, denn er brauchte keine bösen Triebe auszurotten, weil diese nicht vorhanden waren, sondern nur die zarten Pflanzen des Guten und Schönen sorgsam zu pflegen. In einem Briefe, den Ernst Curtius an seine Braut und spätere — 65 — Gattin Viktorine Boissonnet — unter dem 27. Januar 1845 — schrieb, heißt es von dem Prinzen : „Wie gern tue ich alles für ihn ! Je mehr sich das junge Gemüt an mich anschließt, je mehr sich der Wimsch der Mutter zu erfüllen scheint, ich möchte ihm ein Freund fürs Leben wer- den, an dem er zum Leben heranwachse, je mehr tägliche Tat mich fühlen läßt, daß meine Arbeit gesegnet ist, desto dank- barer bin ich für diese Stellung, in die ich berufen bin. Ihn wach und lebendig zu machen, ihn fühlen zu lehren, was für Keime in seiner unsterblichen Seele liegen, und daß sie ihren Flügel nicht zum Kriechen, sondern zum Fliegen habe, darauf gehen alle meine Gedanken hin; und schon spürt er den Anhauch einer frischen Morgenluft. . . . Ich sah meinen Prinzen in einem Privatkreise von schlichten Bürgersleuten, und ich freute mich herzlich, zu sehen, wie einfach und unbefangen und fröhlich er war, keine Spur eines steifen Zurückhaltens. Gott erhalte ihn so! Auch lieben ihn alle Menschen, welche ihn kennen.'' Und einige Jahre später schreibt er an Curd von Schloezer aus Babelsberg — Anfang September 1848: „Die Blicke werden sich wohl mehr und mehr auf den Prinzen richten, und erkennen, wie ausgezeichnet er in vieler Hinsicht begabt ist, wie rein und edel sein Herz, wie sicher seine Tat, wie gut er mit den Menschen umzugehen versteht, wie ein festes Gerechtigkeitsgefühl ihm angeboren ist.*' Curtius wurde nicht müde, die große Liebenswürdigkeit, Leutseligkeit und liebreiche Herzlichkeit, Eigenschaften, die un- widerstehlich auf die Menschen wirken, bei dem Prinzen zu rühmen, ihm eine große und segensreiche Zukunft prophezeiend. „Ich kann mir nicht anders denken," so schreibt er einmal an seine Eltern — Potsdam, 2. Weihnachtstag 1848 — „als daß diese Reinheit und dieser Adel der Gesinnung, diese lautere Frömmigkeit, diese Empfänglichkeit für alles Menschliche, Schöne und Edle, die große Fassung und Selbstbeherrschung, der sichere und natürlichere Takt, der unerschütterliche Gerechtig- keitssinn, die bürgerliche Einfachheit seines Wesens und end- lich die schöne Gabe, durch Werk und Wort die Herzen aller guten Menschen zu gewinnen — ich kann mir nicht denken, daß alle diese Gaben nicht den Völkern sollten zum Segen Kohut, Gekrönte und ungekrönte Judenfreunde. 5 — 66 — werden, an deren Spitze ihn das Schicksal berufen wird. Doch wie es auch kommen mag, ich kann der frohen Überzeugung sein, daß er jedes tränenschwere Mißgeschick, das ihm bestimmt. sein mag, schuldlos und mit edler Fassung tragen würde." Welche prophetischen Worte, die buchstäblich in Erfüllung gingen ! War es auch Kaiser Friedrich III. nicht vergönnt, als Herr- scher die Ideale, die seine Seele erfüllten, zu verwirklichen, so hat er doch auch als Konprinz, soweit es in seiner Macht stand, alles aufgeboten, um die Glaubens- und Gewissensfreiheit zu schützen, der Unduldsamkeit der Zeloten entgegenzutreten und die Menschenrechte und Menschenwürde zu verteidigen. Einige Ruhmesblätter aus dem Dasein des Kronprinzen werden dies vollinhaltlich bestätigen. Der lorbeergeschmückte Sieger in so vielen Schlachten, der kühne Held, war ein glühender Freund des Friedens, der nur ungern, ja, nur mit äußerstem Widerstreben in den Krieg zog, weil das Blutvergießen ihn anwiderte. Der Dichter Gustav Frey- tag, der ihm im Leben nahegestanden hat, sagt in seinen 188Q erschienenen Erinnerungsblättern, wo er von der Haltung des Siegers von Wörth — am 6. August 1870 — spricht: „Die Schlacht war eine der blutigsten und ruhmvollsten, die wir erlebt haben, alles gestürmt und zerschlagen unter schreck- lichen Verlusten, Jedermann fühlte, daß dies ein grimmiger, menschenmordender Krieg sei. Der Kronprinz war an diesem Abend still, auch seine mannhafte Kraft erschöpft, er sagte zu mir in größter Bewegung: „Ich verabscheue dieses Gemetzel. Ich habe nie nach Krieges- ehren gestrebt, o, lieber hätte ich solchen Ruhm jedem anderen überlassen. Und es wird gerade mein Schicksal, aus einem Krieg in den anderen, von einem Schlachtfeld über das andere geführt zu werden und in Menschenblut zu waten, bevor ich den Thron meiner Vorfahren besteige. Das ist ein hartes Los!" „Dafür mögen Sie als König im Segen des Friedens re- gieren," erwiderte Gustav Freytag. Wie seine von ihm abgöttisch geliebte Gattin Viktoria, die, in der Luft der Freiheit Albions aufgewachsen, keine konfes- sionelle Unduldsamkeit kannte und jede Verfolgung und Ver- hetzung eines Menschen um seines Glaubens willen haßte und — 67 — verabscheute, so war auch er ein entschiedener, ja leiden- schaftlicher Gegner all der Demagogen in geistlichem oder bür- lichem Gewand, die das Schüren der konfessionellen Vorurteile gleichsam gewerbsmäßig betreiben und die statt Liebe zu pre- digen und zu säen, Haß und Zwietracht pflanzen und eine Be- völkerungsklasse gegen die andere aufzuhetzen suchen. Wie hätte dies auch anders sein können ! War doch seine Gemütsart, wie der spätere Geh. Legationsrat Professor Dr. Ägidi nach eigener Anschauung ihn treffend charakterisierte, „immer sanft und mild, jeder reineren und höheren Regung nachgebend, empfänglich für Mitleid, zart besaitet und weich, stets geneigt, wohlzutun und Frieden zu stiften, selbstvergessen und gehorsam, aber auch unerschütterlich fest in seinem Gewissen, frei von jeder Unwahrheit und allem Groll.** Grund und Boden des Prinzen war eben die Reinheit der Seele in Wahrhaftigkeit und Biederkeit; sie gab ihm das feine Gefühl, Recht von Unrecht zu unterscheiden, das Sein von dem Schein und unter den Men- schen die Guten zu wählen, die Schlechten zu meiden und die Halben zu übersehen. Auch lieh sie ihm von Kindheit auf eine eigene, freundliche Würde; so weich auch sein Herz und Ge- müt, so unerschütterlich war er in seiner Überzeugung. Nie und nimmermehr hätte er je der Stimme seines Gewissens zu- widergehandelt, und die Sprache seines Gewissens wurde bei ihm, zumal Bescheidenheit und Wahrhaftigkeit sein Herz heiligten, zur Offenbarung. Als der Kronprinz des Deutschen Reiches — am 13. Sep- tember 1883 — in Wittenberg die „Lutherhalle" eröffnete, er- hob er die dringende Mahnung, allezeit einzutreten für das Be- kenntnis der Reformation und mit ihm für Gewissensfreiheit und Duldung, der die Kraft und das Wesen des Protestantis- mus berge, nicht in Buchstaben, sondern in dem zugleich le- bendigen, urdeutschen, mutigen Streben nach der Erkenntnis christlicher Wahrheit. Die Duldung galt ihm von jeher als eine gegen jedermann zu übende, heilige Pflicht. Wie er bei seinen Reisen im In- und Ausland in gewissenhafter Weise allen Bekenntnissen, auch dem jüdischen, gleichmäßig gerecht zu werden suchte, so ver- hehlte er nie seinen Widerwillen gegen jede Gehässigkeit, die wegen der Verschiedenheit des Glaubens hervortrat. So oft er 5* — 68 — nur irgend konnte, förderte er ein gutes Einvernehmen zwischen den einzelnen Konfessionen und verdammte alle Störungen des religiösen Friedens. Es ist bekannt, daß er den Antisemitismus überaus streng verurteilte, weil derselbe dem Geist der Duldsamkeit wider- spreche und geradezu ein Hohn auf die Menschheit sei. Wir müssen bei diesem Punkte etwas länger verweilen, weil von Seiten der Antisemiten wiederholt versucht wurde, die durch keine Sophistereien aus der Welt zu schaffende klare Stel- lungnahme des Kaisers Friedrich zum Antisemitismus zu trüben. Wir folgen in unserer genetischen Darstellung des betreffenden Verhältnisses der quellenmäßigen Biographie von Margaretha von Poschinger, sowie Martin Philippson und anderen Lebensbe- schreibern des Kaisers Friedrich, die gar keine zweifelhafte Deu- tung und Deutelung in diesem Punkte zulassen. Am 15. Januar 1881 hatte die jährliche Generalversamm- lung des Vorstandes der Viktoria-National-Invalidenstiftung zu Berlin unter dem Vorsitz des Kronprinzen stattgefunden. Bald nach Aufhebung der sehr langen Geschäftssitzung wendete sich der Kronprinz an den stellvertretenden Vorsitzenden, den Geh, Kcmmerzienrat und Stadtrat Mayer Magnus, mit der Frage, ob er mit dem vergangenen Jahre zufrieden gewesen sei. Der An- geredete entgegnete, daß angesichts der Sr, Kaiserlichen Hoheit wohlbekannten antisemitischen Agitation das Jahr für ihn eines der bösesten seines Lebens gewesen sei. Wenn ihm und un- zähligen seiner Glaubensgenossen inmitten der traurigen Bewe- gung ein starker Trost geblieben wäre, so sei es die lebendige Erinnerung an den an dieser Stelle (im Jahre zuvor) getanen Ausspruch des Kronprinzen, daß er die Bewegung bedaure und daß sie eine Schmach für unsere Zeit sei. Mit allem Nach- druck bemerkte hierauf der Kronprinz, daß er dieselbe An- schauung auch heute noch wie damals hege, daß er die ge- hässigen Bestrebungen auf das entschiedenste mißbillige und ver- werfe. Was sein Gefühl dabei am meisten verletze, sei die Hineintragung dieser Tendenzen in die Schule und die Hör- säle; in die Pflanzstätten des Edlen und Guten sei dieses böse Samenkorn hineingeworfen worden. Hoffentlich werde es nicht zur Reife gelangen. Er vermöge es nicht zu fassen, wie Männer, die auf geistiger Höhe stehen oder ihrem Berufe nach stehen — 69 — sollten, sich hier zu Trägern und Hilfsmitteln einer in allen Voraussetzungen und Zielen gleichmäßig verwerflichen Bewegung hergeben konnten. Der Kronprinz zog zur Erläuterung dieser Anschauungen einen einzelnen markanten Fall jener Zeit herbei, wogegen er auf die Geschichte der Agitation in allen einzelnen Phasen einging. Der hohe Herr fragte im weiteren Verlauf der Unterredung, ob es wahr sei, daß viele jüdische Familien Berlin zu verlassen beabsichtigten. Meyer Magnus entgegnte, daß ihm kein einziger derartiger Fall zur Kenntnis gekommen sei, und daß er auch nicht daran glaube. Unter den Juden herrsche wohl eine leicht begreifliche und tiefgehende Erregung; die frühere Äußerung des Kronprinzen und manche anderen Umstände hätten aber mächtig dazu beigetragen, die feindseligen Bestrebungen in ihrer nächsten Wirkung abzuschwächen. Der Kronprinz bemerkte hier- auf, auch er gebe sich der sicheren Hoffnung hin, die Bewegung werde sich langsam im Sande verlieren, denn derartige ungesunde Dinge könnten keinen Bestand haben. Diese Äußerungen des Kronprinzen haben nachmals die öffentliche Meinung vielfach beschäftigt. Antisemiten gaben sich alle Mühe, die Wirkung der kronprinzlichen Meinungskundge- bung gegen den Antisemitismus abzuschwächen und die letz- tere sogar als liberale Erfindung zu bezeichnen. Im preußischen Abgeordnetenhause am 6. Dezember 1883 und im Reichstag am 22. März 1893 kam es deswegen zu lebhaften Auseinander- setzungen. Jeder Zweifel an der Authenticität der angeführten Worte bezw. der Brandmarkung der antisemitischen Bewegung aus so hohem Munde ist jedoch ausgeschlossen. Wie der Kaiser 1880 den Antisemitismus als eine Schmach für unsere Zeit be- zeichnete, so wiederholte er diese Charakteristik, wie gesagt, auch ein Jahr später. Und daß diese in der Tat erfolgte, das bestätigten neben dem Geh. Rat Magnus noch andere hoch- stehende Persönlichkeiten, deren Wahrheitsliebe nicht angetastet werden darf; so der Staatsminister von Stosch und Dr. G. von Bunsen. Auch an Gerichtsstelle erhielt die Wahrheit des hier geschilderten Vorganges durch das Erkenntnis des Reichsge- richtes in dem Prozeß des Hofpredigers S t ö c k e r gegen den Redakteur Bäcker gleichsam ihre urkundliche Notifizierung. In der Eingabe der Gebrüder Magnus an den Präsidenten des Reichs- — 70 — tags, Herrn von Levetzow, — vom März 1893 — wurden auch Aussprüche der Kronprinzessin Viktoria angeführt, die entschie- dene MißbiHigung der Judenhetze durch diese hohe Frau dar- legend. Von dem gleichen Geiste der Duldsamkeit und Mensch- lichkeit war der Kronprinz beseelt, als er wenige Tage nach der jährlichen Versammlung des Vorstandes der Viktoria-National- invalidenstiftung nach dem Anhören eines Vortrages des Ber- liner Stadtschulrats Cauer, der sich gegen Unduldsamkeit in Glaubenssachen richtete, den Druck dieses Vortrages zum Ge- dächtnis Gotthold Ephraim Lessings veranlaßte. War die lebhafte Stellungnahme des Kronprinzen in erster Linie, wie gesagt, zurückzuführen auf den ihm angeborenen Sinn, Bedrängte und Verfolgte in Schutz zu nehmen und die Glaubens- fanatiker zu schänden zu machen, so kam daneben noch in Betracht, daß er — wie Margaretha von Poschinger mit Recht bemerkt — bei der Durchführung seiner philanthropischen Be- strebungen vielfach von reichen Israeliten unterstützt wurde. Es war nun naheliegend, daß er es nicht ansehen konnte, daß ge- rade diese Männer, deren Freigebigkeit zu edlen Zwecken seine höchste Anerkennung herausforderte, einer schimpfUchen sozi- alen Verfolgung ausgesetzt waren. Die wiederholte Brandmarkung des Antisemitismus durch den Kronprinzen ist eine geschichtliche Tatsache, an der nicht gerüttelt werden und ein Kaiserwort, an dem nicht gedeutelt werden kann. Sie wird noch bestätigt durch den Brief des Fürsten von Hohenzollern an seinen Sohn, den König von Rumänien, vom 24. Januar 1880. *) In gleichem Sinne hat sich Kaiser Friedrich noch öfter aus- gesprochen ; jeder schriftlichen und mündlichen Kundgebung gegen den Antisemitismus, die zu seiner Kenntnis kam, gab er seine lebhafte Zustimmung zu erkennen. Als Kämpfer für Gewissens- freiheit und Duldung, welche Tugenden fleißig zu üben er in einem fort ermahnte, erschien ihm der große Gotthold Ephraim Lessing. Deshalb begrüßte er auch freudig den Gedanken, dem Dichter des „Nathan des Weisen*' in der Reichshauptstadt ein Denkmal zu errichten. Nicht nur in Preußen selbst sondern *) Vergleiche das Leben König Karls von Rumänien, Band 4, Stuttgart 1900, Seite 239 und M. Philippson, Das Leben Friedrichs III., Wiesbaden 1900, Seite 356ff. - 71 — auch auf seinen Reisen im Reiche Heß der Kronprinz, wie schon erwähnt, keine Gelegenheit vorübergehen, um zu zeigen, daß ihm die Deutschen israehtischen Glaubens gerade so nahe standen, wie die des katholischen und evangelischen Bekenntnisses. So beehrte er unter anderen in Gesellschaft seiner Gemahlin und des erbprinzlichen Paares von Meiningen einst ein Konzert, das in der Wiesbadener Synagoge zum Besten des Pensionsfonds für israelitische Kultusbeamte gegeben wurde, mit seiner Gegenwart. Aus meiner eigenen Kenntnis kann ich mit- teilen, daß der Kronprinz für Moses Mendelssohn, den besten Freund Lessings, eine besondere Vorliebe hatte, ihn als Dichter wie als Menschen hochschätzend. Als mein Buch „Moses Men- delssohn und seine Familie** (1886) erschienen war, nahm ich Veranlassung, dem Kronprinzen zu schreiben und ihm eine Reihe meiner Schriften, die ich namhaft machte, mit der Bitte anzubieten, dieselben als kleines Zeichen meiner großen Ehrer- bietung hochgeneigtest annehmen zu wollen. Unter diesen war auch das genannte Werk verzeichnet. Der Kronprinz ließ mir eine sehr liebenswürdige Zuschrift durch seinen Adjutanten von Kessel, wenn ich nicht irre, jetzt Generaloberst der Infanterie, Generaladjutant Sr. Majestät des Kaisers und Königs Wilhelm II., zukommen, worin ich ersucht wurde, nur mein Buch „Moses Mendelssohn und seine Familie** dem hohen Herrn zu über- senden, was dann auch geschah und mir ein sehr freundliches Dankschreiben eintrug. Daß ihm der Urheber der sogenannten Berliner Bewegung, der Hofprediger Adolf Stöcker, in der tiefsten Seele zuwider war und daß er, soweit er es nur ermöglichen konnte, seinen Einfluß aufbot, um diesen Mann politisch kalt zu stellen, bedarf keines näheren Beweises. Da jedoch der damalige Reichskanzler Fürst Bismarck in Stöcker einen Sturmbock gegen den ihm so verhaßten Liberalismus erblickte, war es dem Kronprinzen nicht vergönnt, den Agitator so rasch los zu werden, wie er es so gern gewünscht hätte. Der Kronprinz mußte, wie Martin Phi- lippson in seinem „Leben Kaiser Friedrichs III.** richtig aus- führt, sehr zu seinem Leidwesen in Anbetracht der Allmacht Bismarcks einsehen, daß jedes Löken wider den Stachel ver- geblich sein würde; wollte er nicht den leitenden Staatsmann und Kanzler, der sich um Preußen und Deutschland solch un- — 72 — vergängliche Verdienste erworben, ganz und gar vor den Kopf stoßen und diesen zum Rücktritt veranlassen, durfte er es nicht zum äußersten kommen lassen. Als er jedoch zur Regierung gelangte, verkündete er feierlich in seinem Erlaß an den Reichs- kanzler und Präsidenten des Staatsministeriums die Grundsätze der Gewissensfreiheit und der religiösen Duldung mit den schönen Worten: „Ich will, daß der seit Jahrhunderten in Meinem Hause heilig gehaltene Grundsatz religiöser Duldung auch ferner allen Meinen Untertanen, welcher Religionsgemeinschaft und welchem Bekenntnisse sie auch angehören, zum Schutze gereiche. Ein jeglicher unter ihnen steht Meinem Herzen gleich nahe — haben doch alle gleichmäßig in den Tagen der Gefahr ihre volle Hin- gebung bewährt'* — und damit waren auch die Tage Stöckers als Politiker gezählt! Von verschiedenen amtlichen und kirchenregimentlichen Sei- ten war ohnehin ein repressives Vorgehen gegen den Hofpre- diger Stöcker in Berlin und dessen damalige christlichsoziale Agitation angeregt worden und zwar wurde gewünscht, daß in einem Kronrat unter dem Vorsitze des Kaisers über diese An- gelegenheit verhandelt werde. Es wurden Maßregeln behufs so- fortiger Beseitigung dieses Domgeistlichen in Vorschlag gebracht. Bismarck widersetzte sich auch diesmal der vollständigen Lahm- legung des Sturmbocks, indem er erklärte, daß die Angelegenheit dieses geistlichen Agitators eine Disziplinarsache sei, die nur von dem Evangelischen Oberkirchenrat entschieden werden könne, und er betonte mit Nachdruck, daß Stöckers Kampf gegen die Umsturzpartei nicht ohne Nutzen für den Staat gewesen sei. Doch diesmal waren die Bedenken Bismarcks für Kaiser Friedrich nicht maßgebend. Stöcker wurde bekanntlich vor die Wahl ge- stellt, entweder seine Stellung als Hof- und Domprediger beizu- behalten oder seine öffentliche Agitation in Volksversammlungen fortzusetzen. Wie man weiß, wählte der so in die Enge getrie- bene Mann den Verzicht auf die Agitation und behielt die Stellung des Hof- und Dompredigers einstweilen bei, bis ihm auch diese im Jahre 1890, ein halbes Jahr nach dem Sturze Bismarcks, ent- zogen wurde. Seit seiner Maßregelung verlor Stöcker von Tag zu Tag immer mehr an Einfluß, denn es war ihm die Macht genommen, die Volksmassen gegen die Juden aufzuwiegeln und allerlei Scheiterhaufenreden loszulassen. Als Hof- und Dom- — 73 — predigen konnte er keinen weiteren Schaden anrichten. Übrigens wurde er bei der Abhaltung des sonntägUchen Gottesdienstes von der königlichen Familie in Charlottenburg stets übergangen. Fürst Bismarck rühmte sich einst in den „Hamburger Nach- richten**, daß es ihm gelungen sei, in bezug auf Stöcker die Absichten des schwer leidenden Herrschers zu vereiteln. Dieser habe das Auftreten des Hofpredigers mit der Stellung eines amtlichen geistlichen Beraters des Monarchen unvereinbar ge- funden und beabsichtigt, ihn direkt von seinem Amte zu ent- fernen. Dagegen habe er, der Reichskanzler, jedoch angekämpft und es so durchgesetzt, daß die Maßregelung des Agitators in den bereits erwähnten Grenzen geblieben sei. Von den israelitischen Politikern, die Kaiser Friedrich ab und zu seines Umganges würdigte und für die er hohe Achtung hegte, nenne ich hier nur Eduard Las k er und Ludwig Bam- berger. Der erstere war ihm schon deshalb besonders sym- pathisch, weil er seine Lieblingsidee, dem König von Preußen die Kaiserkrone aufzusetzen und ein neues Kaiserreich zu gründen, aufs nachhaltigste unterstützte. Am 10. Dezember 1870 hatte der Reichstag die Bundesverträge mit den süddeutschen Staaten an- genommen und eine von Lasker verfaßte Adresse zu der seinigen gemacht. Lasker hatte nämlich beantragt, das Parlament möge König Wilhelm ersuchen, die Kaiserkrone anzunehmen, und be- schließen, zur Überreichung dieses Schriftstückes eine Deputation nach Versailles zu senden. Damals war König Wilhelm noch keineswegs geneigt, den Kaisertitel anzunehmen, und der Kron- prinz stand fast ganz isoliert mit seinen Wünschen da. Um so angenehmer berührte es ihn, daß der israelitische Führer der Nationalliberalen im Reichstag mit solchem Nachdruck und mit solcher Beharrlichkeit seine Bestrebungen unterstützte. Auch sonst ehrte er die politischen Fähigkeiten und charaktervolle Haltung Laskers. Nicht minder schätzte er Ludwig Bamberger, mit dem er wiederholt interessante und bedeutsame Unterredungen hatte. Berthold Auerbach, den ausgezeichneten israelitischen Romanschriftsteller und Philosophen, las der Kronprinz mit gro- ßem Interesse. Er wurde auch wiederholt zum Tee bei dem Kron- prinzen geladen. Der Thronfolger teilte mit seinem Schwager, dem Großherzog von Baden, die Verehrung für den Dichter. — 74 — Zu seinen Vertrauten zählte der Reichstagspräsident Edu- ard Simson, dessen Intervention er sich manchmal zur Aus- führung des einen oder anderen wichtigen Schrittes bediente. Dies war z. B. auch 1870 der Fall. Der Reichstag hatte an- läßlich der Beratung des allgemeinen deutschen Strafgesetzbuches sich für die Aufhebung der Todesstrafe ausgesprochen, doch widersetzte sich die preußische Regierung dieser Neuerung. Der Kronprinz stand nicht auf dem Standpunkt der Regierung, sondern auf dem des Reichstags, doch vergebens waren alle seine Bemühungen, seinen Vater und den Reichskanzler für seine Ansichten zu gewinnen. Als ihm dies nicht gelang, war er wenigstens bestrebt, zu retten, was zu retten war, d. h. die Todesstrafe für politische Verbrechen in Fortfall zu bringen. Doch vermochte er nicht, mit seiner Anschauung im Kronrat durchzudringen. In jener kritischen Lage wandte er sich an den Reichstagspräsidenten Simson, damit dieser seinen Wunsch den Führern der ausschlaggebenden nationalliberalen Partei über- mittele, und dieser Wunsch des Thronfolgers genügte, daß der Reichstag nachgab, wodurch das Werk des nationalen Straf- gesetzbuchs nicht mehr gefährdet wurde. Man weiß, daß viele Jahre hindurch der bevorzugte Be- rater des Kronprinzen in allen eigentlichen staatsrechtlichen Fragen der Justizminister H ei n rieh Friedberg, wie Simson israelitischer Abstammung, war. Er gehörte zu denjenigen, denen er gleich beim Antritt seiner Regierung den Schwarzen Adlerorden und damit den erblichen Adel verlieh. Derselben Auszeichnung wurde auch der Präsident des Reichsgerichts, der schon genannte Dr. Simson, teilhaftig. Nicht unerwähnt kann ich es lassen, daß Kaiser Friedrich III. sehr gern und oft das Alte Testament las und sich an der Poesie, Ethik und Moral desselben erbaute. Gern zitierte er im Umgang bei passenden Anlässen bibhsche Sprüche und Ge- danken. Wie bibilfest er war, beweisen die biblischen Sätze, die er in der Kirche in Golm beim Neuen Palais anbringen ließ. Dieses Gotteshaus wurde als eine bleibende Erinnerung an die Feier der silberenen Hochzeit des Kronprinzen neu gebaut. Im September 1881 wurde der Grundstein gelegt und am 24. Juli 1886 fand die Einweihung der Kirche im Beisein des kronprinzlichen Paares statt, das sich die Förderung des Baues und der inneren — 75 — Einrichtung desselben unausgesetzt hatte angelegen sein lassen. Die, wie gesagt, an den Wänden der Kirche befindlichen Bibel- sprüche sind ein Ausdruck seines eigensten religiösen Empfindens. Man wird sie nicht ohne tiefe Wehmut lesen. Es ist, als wenn schon damals trübe Ahnungen eines schweren Schicksals den hohen Herrn erfüllt hätten. Margarete von Poschinger hat den ersten Entwurf zu diesen Gedanken aus der Bibel, von des Kron- prinzen eigener Hand herrührend, mitgeteilt. Ich lasse ihn hier auszugsweise folgen. Über der Tür aus dem Turmraum in das Schiff ist zu lesen : „Gedenke der vorigen Zeit bis hierher und betrachte, was der Herr getan hat an den alten Vätern." (5. Buch Moses, K. 32, 7.) An der Wand beim Hereinkommen links ebendaselbst: „Gleichwie der neue Himmel und die neue Erde, so ich mache, vor mir stehen, spricht der Herr, also soll auch Euer Name und Same stehen.*' (Jesaias, K. 66, 22.) Über dem Schönau v. d. Gröbenschen Grabstein : „Der Herr unser Gott sei mit uns, wie er gewesen ist mit unseren Vätern!'* (1. Könige, K. 8, 57.) Über der Tür aus dem Altarraum in die Sakristei: „Und laß das Buch dieses Gesetzes nicht von Deinem Munde kommen, sondern betrachte es Tag und Nacht, auf daß Du's haltest." (Josua, K. 1, 8.) Links von der Orgel: „Ist aber unsere Stunde gekommen, so wollen wir ritterlich sterben, um unserer Brüder willen, und unsere Ehre nicht lassen zuschanden werden." (1. Buch der Makkabäer, K. 9, 10.) Innerhalb des Königlichen Stuhles über der Eintrittstür: „Behüte Dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus gehet das Leben." (Sprüche, K. 4, 23.) — „Befiehl dem Herrn Deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohl machen." (Psalm, K. 37, 5.) — „Sei stille dem Herrn und warte auf ihn." (Psalm, K. 37, 7.) — „Schaff in mir, Gott, ein reines Herz" (Psalm, K. 57, 12.) Trefflich charakterisiert Martin Philippson Kaiser Friedrichs Religiosität mit den Worten : „Sein reiner Sinn und sein tiefes Empfinden erfüllte ihn mit inniger Frömmigkeit, aber eben deshalb haßte er, gleich seinem Ahnen, dem Großen Kurfürsten, die konfessionelle Aus- schließlichkeit und Unterdrückung und die zur Schau getragene — 76 — Frömmelei, verwarf er die Benutzung der Religion als Werk- zeug zum Regieren und als politische Waffe. Er sah hierin ein Unternehmen, das, ohne der Regierung wesentliche Dienste zu leisten, die Religion zu einer ihrer unwürdigen, ihr verderbHchen Rolle verurteilte. Nicht starres Dogmentum erkannte er an, son- dern wahre Religiosität, die zugleich Liebe und Duldsamkeit, sowie die Gleichberechtigung aller tüchtigen und guten Menschen ohne Rücksicht auf ihre philosophisch-konfessionellen Anschau- ungen und Überzeugungen wiedergibt, die eine grundsätzliche Gegnerin alles intoleranten und selbstgerechten Pharisäertums ist. Als Vertreter dieses edlen und schönen Empfindens von der höchsten und ruhmreichsten Stelle des Staats- und Volks- lebens aus hat sich Kaiser Friedrich unsterbliche Verdienste erworben, deren Nachwirkung in Deutschland ebensowenig ver- schwinden wird, wie der schöne Glanz seines teuren Fürsten- namens." Es ruht was sterblich war an Kaiser Friedrich III. in der Erde Schoß, aber der gute Genius, der ihn stets umschwebte, und das Meer von Licht, das von ihm ausging und noch immer fortwirkt, mahnt uns daran von Jahr zu Jahr, von Geschlecht zu Geschlecht, daß das Unsterbliche an dem ruhmreichen Helden und edlen HohenzoUernfürsten noch immer fortlebt, den Lebenden zum Gedächtnis und den kommenden Geschlechtem zur Nach- eiferung. Möchten namentlich die deutschen Israeliten in allen Stürmen des Daseins dessen eingedenk sein, daß es einen ge- krönten Märtyrer gegeben, der den Friedensstörern und Volks- aufwieglern ein „Quos Ego" zugerufen und die Geister der Verhetzung in ihre Schranken zurückgewiesen hat! Ludwig Kossuth. Den Anteil, welchen die Juden Ungarns an der revolutio- nären Bewegung der 48er und 49er Jahre nahmen, war kein geringer. Ausgeschlossen von allen bürgerlichen Rechten und von allen Nationalitäten in gleicher Weise verfolgt und bedrückt, gaben weder dieses leicht zur Vergeltung aufstachelnde Verhältnis noch ihre Nationalität und Anlagen den Ausschlag, zu welcher Partei sie sich bekennen sollten. Als Bewohner des Landes, als Patrioten schlössen sie sich der Bewegung an, und daher fand man sie ebenso in den Reihen der Rebellen wie der Schwarz- gelben, und zwar nicht zaghaft in der Reserve, sondern im Vordertreffen, Leib und Leben, Gut und Blut für ihre Ideen einsetzend. Allerdings ist nicht zu leugnen, daß die Mehrheit der ma- gyarischen Juden schon damals vaterländisch gesinnt war. Es zog sie magisch zu dem Mann hin, der Freiheit und Gleich- heit predigte und von dem sie eine Erlösung aus dem Ghetto, aus staatsbürgerlicher und politischer Erniedrigung erhofften. Tatsächlich kämpften im Heere der Magyaren etwa 1000 Juden, darunter ein General, Nicht allein die Jugend schloß sich be- geistert dem Diktator Ludwig Kossuth und seiner Partei an, sondern auch gereifte Männer erklärten sich für den Helden der nationalen Propaganda. In Wien sah man dieser Kossuth-Liebe anfänglich teilnahmslos zu, als aber die Juden ihrer Anhänglichkeit an den kühnen Führer gar zu stürmischen Ausdruck gaben, wurden die Rabbiner und Prediger für diese Sympathien ebenso bestraft, wie die katholischen Domherren und protestantischen Pfarrer, und die berüchtigte Kontribution Haynaus, den Judengemeinden gemeinsam auferlegt, war eine Folge der die Israeliten Ungarns durchweg verdächtigenden Anhänglichkeit an die Männer der — 78 — neuen Ära. Diese Begeisterung legte sich auch dann nicht, als die oktroyierte Verfassung die volle Gleichberechtigung der Juden in Österreich aussprach. Als Ludwig Kossuth seine glänzende politische Laufbahn begann, äußerte er sich zwar — was ja bei ihm selbstverständ- lich war — in liberalem Sinne über die Lage der Juden, aber er verschob dennoch die Anerkennung der Bürgerrechte unserer Glaubensgenossen im Reiche der heiligen Stephanskrone immer auf spätere Beratungen, um nicht Antipathien rege zu machen, die seine Reihen lichten mußten; aber als die Re- gierung nach Szegedin flüchtete, und die Russen ihr auf den Fersen waren, konnte er nicht umhin, die vollste Judeneman- zipation durch den Reichstag aussprechen zu lassen. Der ungarische Staatsmann hatte große Liebe für die Juden ; einer seiner Geheimsekretäre war ein Jude, und einer seiner eifrigsten politischen Mitarbeiter hieß J. P. Hom (eigentlich Einhorn), der seine Laufbahn als Rabbinatskandidat begann, um später als königl. ungarischer Unterstaatssekretär zu enden. Dieser war es auch, der 1851 eine für Kossuth sehr sympathische Schrift herausgab, welche den Agitator wie den Minister zu würdigen suchte. Er soll auch der intellektuelle Urheber jener Proklamation der ungarischen Juden vom 30. September 1848 gewesen sein, die also lautete: „Bürger von Budapest! Die schweren Augenblicke der Gefahr und des Elends lasten auf unserm teuren Vaterlande. Tausende und Abertausende sind mutig auf das Schlachtfeld ge- eilt, um zu leben oder zu sterben fürs Vaterland. Zum Schutze unserer Stadt, zur Verteidigung des Besitzes, zur Aufrechter- haltung der Ruhe und Ordnung darf und soll auch nicht ein Bewohner von Budapest fehlen. Es kann nicht sein, daß auch heute am Tage der Gefahr das Vorurteil wie ein Gespenst zwischen Bruder und Bruder trete. Wir sind alle Söhne des Vaterlandes, und Alle bereit, dasselbe zu verteidigen. MännHch treten wir deshalb vor Euch, Bürger von Budapest: wollet Ihr, daß wir mit Euch gemeinsam vollführen, wie es der Augen- blick erheischt? Rufet uns und wir gehen gern. Viele unserer Glaubensgenossen befinden sich draußen auf dem Schlachtfelde, auch hier wollen wir unsere Kräfte in Gemeinschaft sämtlicher — 79 — Bürger zur Verteidigung der Stadt aufbieten. Unser Motto ist: mit Euch zu leben, mit Euch zu sterben! Budapest, 30. September 1848. Im Namen der Israehten von Budapest." Es ist sehr bezeichnend, daß diejenigen Städte in Ungarn, in welchen der überwiegende Teil der Einwohnerschaft aus Deutschen bestand, am meisten gegen die von Kossuth beab- sichtigte Judenemanzipation schon von vornherein sich auflehnten, ja sogar eine frische, fromme und fröhliche Judenhetze mitten im Kriege inscenierten, so daß die ungarische Regierung alle Hände voll zu tun hatte, um die Verfolgungen zu unterdrücken. Sie sandte z. B. nach Stuhlweißenburg, wo der Stadtrat die Vertrei- bung der Juden aus dem Weichbild der Stadt angeordnet, Franz V. Pulszky als Regierungskommissar mit weitgehendsten Voll- machten. Wie dieser in seinen Memoiren („Meine Zeit, mein Leben") erzählt, gelang es ihm bald Ordnung herzustellen, indem er an die Rädelsführer eine donnernde Philippika richtete, dahin lautend: die Freiheit sei kein Privilegium, sie sei wie die brennende Kerze, die von ihrer Leuchtkraft nichts verliere, wenn man an- dere Kerzen daran anzünde; die Juden seien ebenso gut Söhne des Vaterlandes wie wir; die Regierung werde die Ruhestörer exemplarisch züchtigen und nicht dulden, daß religiöse Unduld- samkeit Platz greife u. s. w. Der Verfasser der „Aufzeichnungen eines Honved" erzählt in seiner 1850 erschienenen Schrift eine interessante Episode aus Kossuths Leben, die einen bezeichnenden Beitrag zur Erklärung jener Sympathie gibt, die die alten und frommen Juden ebenso wie die jüngeren für diesen Staatsmann bis zur letzten Stunde seines Wirkens betätigen. Sein Vater war Advokat — oder, wie man damals sagte, Fiskal — und wohnte in einem nördlichen Teile Ungarns, wo die aus Polen herübergewan- derten Juden, die Chaßidim, mit ihren langen Talaren, Pelz- kragen und Ringellocken angesiedelt sind. Gegen den weit und breit im Gerüche besonderer Heiligkeit stehenden Rabbiner zu Ujhely führte nun Kossuth Senior einen ärgerlichen Prozeß. Der Grund desselben ist mir unbekannt. Er dauerte aber — wie dies damals in Ungarn üblich war — lange, und es starben im Laufe dieser Zeit zwei Söhne des Advokaten und — 80 — er selbst. Die Chassidim streuten nun aus, das sei der Fluch des Rabbi von Ujhely, und selbst die Katholiken und Calviner bekamen eine Scheu vor der Macht jenes Wunderrabbi, zu dem Kranke und Gebrechliche aller Konfessionen strömten, um sich durch seine unglaublichen Kuren heilen zu lassen. Der Rabbi genoß großes Ansehen ; er war ein kluger und erfahrener Mann und benutzte den Glauben seiner Stammesgenossen und der ungebildeten Gegend in geschickter Weise für seine Zw^ecke. Des Advokaten Frau fürchtete, daß auch ihr letzter Knabe, Ludwig Kossuth, dem Fluche des Rabbi verfallen sei, und das Mutterherz trieb sie hin zum bärtigen Mann, um Vergebung zu bitten für die Unbill, welche ihr Gatte ihm einst angetan. Der „Bai Schem'', dessen Ansehen und Einfluß durch einen solchen Vorfall nur gewinnen mußte, war leutselig und zuvor- kommend, und der greise Priester brachte es durch sein Be- nehmen dahin, daß die Calvinistin um Segen bat für ihren Sohn. Der kluge Rabbi zögerte, zu willfahren ; er betrachtete den Knaben und unterhielt sich mit ihm. Geist und Lebhaftigkeit zeichnete schon damals das Kind aus, und mehr als das mag vielleicht der Umstand günstig auf den Rabbi gewirkt haben, daß Ludwig nicht mit Hohn und Mißachtung auf die fremdartige Umgebung bhckte und auch nicht jene Scheu zeigte, die nahe an Ab- scheu grenzt. Wir wollen das Ausmalen dieser Seelenzustände eines klugen Rabbi, einer geängstigten Mutter und eines geist- vollen Knaben einer dichterischen Feder überlassen. Tatsache ist, daß der Rabbiner seine Hände auf den Kopf des Kindes legte und ihn segnete. Für ein so großes Ereignis wurde dies in jener Gegend betrachtet, daß die Kossuthsche Familie den vom Rabbi citierten Psalmenspruch sich merkte (Ps. 60, V. 6) : „Natatha l'ejerecha nes lehisnoses mipne koschet sela*' (Du verleihest deinen From- men ein Panier, um damit zu glänzen ob der Wahrheit willen). Der Rabbiner von Ujhely wählte diesen Vers wegen des Wortes „Koschef. Es heißt: „Wahrheit*', aber die dortigen Kabbalisten schoben den Sinn unter: „Du verleihst deinen Aus- erlesenen ein Panier, um damit zu glänzen um Kossuths Willen (sprich Koschut)." Diese philologische Unrichtigkeit tat dem Segen und seiner Bedeutung bei den Chassidim keinen Abbruch, zumal der — 81 — Bai Sehern dem Knaben noch eingeprägt hatte, nicht feindUch den armen Juden gesinnt zu sein, und Ludwig Kossuth zeich- nete sich schon in der Schule durch große rehgiöse Duldung aus. Si non e vero, e ben trovato ! Während des Prozesses von Tiszar-Eszlar hatte sich Kossuth aufs Entschiedenste gegen den Antisemitismus ausgesprochen, und seinem Auftreten war es wohl in erster Linie zu verdanken, daß die Unabhängigkeitspartei, die Judenfeinde erster und zweiter Güte in ihren Reihen hatte und mit Antisemiten Jahre lang liebäugelte, sich schließlich energisch von den Rassen- und Re- ligionshetzern lossagte und sich auf ihren demokratischen Ur- sprung besann. Zeit seines Lebens predigte er Duldung in Wort und Schrift, war er ein beredter Verteidiger der staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Rechte der Juden und wies jede Ge- meinschaft mit Leuten zurück, die mit mittelalterlichen Waffen kämpften. Kohut, Gekrönte und ungekrönte Judenfreunde. König Eduard VII. als Judenfreund, Wir haben erzählt, daß England sich Jahrhunderte hindurch gegen die vollständige Emanzipation der Juden abwehrend ver- halten und erst allmählich sich die Humanitätssonne auch in dem Weltreich Großbritannien Bahn gebrochen habe. Es gereicht den Herrschern dieses Reichs zum Ruhme, daß sie von dem ersten Augenblick an, wo die Juden-Emanzipation, d. h. die Gleichberech- tigung aller Bekenntnisse, ausgesprochen wurde, alles Mögliche taten, um nicht allein die Sünden der Vergangenheit bei den Israe- Hten vergessen zu machen, sondern auch, um sie nach allen Rich- tungen hin zufrieden zu stellen. Seit dem Jahre 1858, als die größte Kolonialmacht der Welt durch das Parlament die vollständige staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden mit ihren christhchen Mitbürgern proklamierte, wurde mit allen Resten der etwa noch bestandenen Vorurteile tabula rasa gemacht. Die Gesetzgeber sowohl wie die Herrscher waren mit vereinten Kräften bemüht, alle Reibungsflächen aus der Welt zu schaffen. Die Gleich- berechtigung bestand eben nicht blos auf dem Papiere, sondern sie wurde auch auf dem Gebiete der Verwaltung folgerichtig und ehrlich durchgeführt. Schon die Königin Viktoria von England und Kaiserin von Indien, die mustergültige konsti- tutionelle Fürstin, kam den Israeliten mit aufrichtiger Sympathie entgegen. Sie besaß keine Spur von Voreingenommenheit gegen dieselben, und ihrem Herzen standen alle Briten ohne Unter- schied der Religion und Parteistellung gleich nahe. Bekannt- lich war der Dichter, Schriftsteller und Staatsmann Benjamin d' Israeli, der als Lord Beaconsfield in der Geschichte Groß-Britanniens unsterblich fortlebt, Jahrzehnte lang der leitende Premier-Minister Groß-Britanniens, ohne daß sie je an seiner jüdischen Abstammung Anstand genommen hätte. Er gehörte zu ihren Lieblingsministern, den sie nicht allein als Staatsmann — 83 — sondern auch als Mensch hochachtete. FreiUch war sie ihm auch zu großem Dank verpflichtet, zählte er doch zu jenen bri-' tischen Ministerpräsidenten, deren auswärtige Politik dem Staate die größten Erfolge einbrachte. Dank seiner geschickten Politik wurde er der „Mehrer des Reiches'' in des Wortes eigentlichster Bedeutung. So wurden z. B. im September 1874 die Fidschi- Inseln Groß-Britannien einverleibt. Auf seine Initiative geschah im November 1875 der Ankauf der Suez-Kanal-Aktien, wodurch England maßgebenden Einfluß in Ägypten gewann. Im Jahre 1876 machte er die Königin zur Kaiserin von Indien und krönte seine bahnbrechende Tätigkeit durch sein Eingreifen beim Ber- liner Kongreß, wo er gleichsam den Erbfeind Englands, Ruß- land, lahm legte und vom Sultan Abdul Hamid durch den Ver- trag vom 4. Juni 1878 die Insel Cypern erlangte. Die Königin Viktoria kargte nicht mit den Zeichen ihrer Anerkennung und Dankbarkeit für Beaconsfield. Sie ernannte ihn zum Earl und verlieh ihm den Hosenband-Orden. Auch besuchte sie ihn öfter auf seinem Schlosse. Die philosemitische Gesinnung seiner Mutter erbte auch ihr Nachfolger und Sohn Eduard VII., König von Groß-Britannien und Irland, Kaiser von Indien, geboren am 9. November 1841 zu London und gestorben am 6. Mai 1910, einer der begab- testen und tatkräftigsten Monarchen des britischen Weltreichs, die je gelebt haben. Es hat wohl selten ein gekröntes Haupt gegeben, das den Söhnen Israels in Groß-Britannien so viel Beweise seiner Huld und seiner wohlwollenden, ja freundschaftlichen Gesinnung ge- geben hätte als ihn. Gleich als er den Thron am 22. Januar 1901 bestiegen und tags darauf die Verfassung des Reichs beschworen hatte — zum König wurde er am 9. August 1902 gekrönt — , gab er den britischen Israeliten Beweise seiner Zuneigung und der Ach- tung ihrer staatsbürgerlichen Rechte. Er erklärte sich bereit, eine jüdische Deputation zu empfangen, die im Namen der eng- lischen Judenheit ihn zu seiner Thronbesteigung beglückwün- schen wollte. Es war dies seit dem diamantenen Jubiläum seiner verstorbenen Mutter Viktoria das zweite Mal, daß den Israeliten Groß-Britanniens gestattet wurde, sich huldigend dem Thron zu nahen. 6* — 84 — Während jedoch die Zahl der Deputierten, die damals eine Glückwunsch-Adresse überreicht hatten, 5 nicht übersteigen durfte, wurden seitens des neuen Herrschers in dieser Beziehung den Vertretern des englischen Judentums keine Beschränkungen auferlegt. Das Board of Deputies hatte sich ursprünglich da- mit begnügt, im Verein mit der Anglo-Jewish-Association an den König eine Glückwunsch-Adresse zu senden. Später jedoch, als die Juden in Erfahrung gebracht hatten, daß auch die Katho- liken an Eduard VII, eine Deputation absandten, erwarben auch sie sich um die gleiche Gunstbezeugung. Diese wurde ihnen bereitwilligst zugesagt. So bestand denn die De- putation aus 25 Mitgliedern, wobei das Board 14 Mitglieder, darunter die hervorragendsten jüdischen Persönlichkeiten Ijon- dons, wie Sebag Montefiore, Samuel Montagu und Leopold von Rothschild, sowie die damaligen israeliti- schen Mitglieder des Unterhauses Walter von Rothschild und B. L. Cohen entsandte. Die Anglo-Jewish-Association war durch 8 Mitglieder vertreten, darunter die Herren Claus Mon- tefiore, Georg Faudel Phillips, Eduard Sassoon und D. M o c c a t a. Auch 3 Rabbiner waren erschienen, um dem König zu huldigen und zwar der Chef-Rabbi Dr. Hermann Adler für die Hauptgemeinde, der Chacham Dr. Gaster für die sephardische Gemeinde und Reverend Dr. Marx für die Londoner Reformgemeinde. Der König empfing die Vertreter des englischen Judentums mit großer Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit. Er richtete an jeden huldvolle Worte und erkundigte sich über ihre persön- lichen Verhältnisse, auch mußten sie ihm über die Gemeinde-, Kultus- und sonstige Angelegenheiten ihrer Glaubensgenossen Bericht erstatten. Er sagte der Abordnung das schöne Wort, das er während seiner leider kaum 10 jährigen Regierungszeit voll und ganz erfüllt hatte: „Es wird stets ein Gegenstand meiner Sorge sein, die Ausdehnung einer gleichmäßigen Freiheit über alle Rassen und Arten meiner Untertanen zu wahren und zu fördern.'* Mit Recht konnte daher der bereits genannte Chief- Rabbi Dr. Hermann Adler in seiner Trauerrede, die er am 7. Mai IQIO anläßlich der Todesnachricht in der Synagoge hielt, u. ä. sagen : „Kein Teil des britischen Weltreichs ist durch diesen plötz- - 85 — liehen Schicksalsschlag in so tiefe Trauer versetzt worden, als die gesamten jüdischen Untertanen Sr. Majestät. Seine bezaubernde Liebenswürdigkeit, sein unfehlbarer Takt, sein Mitleid mit Kranken und Duldern, seine unermüdliche Sorge um den Welt- frieden kam ihnen besonders zugute. Er ist den Juden ein zweiter König Cyrus geworden, denn keiner hat wie er den Haß ge- haßt, die Verachtung verachtet, den Spott verspottet, unter dem die Juden leiden." Und als die sterblichen Reste des Unsterblichen zu Grabe getragen wurden, es war dies am 20. Mai des genannten Jahres, gab es nicht allein in sämtlichen Synagogen des britischen Reichs Trauer-Gottesdienste, sondern ein Wehklagen ging durch das ganze englische Israel, denn es hatte seinen edlen und großen Beschützer und Gönner verloren. Doch nicht allein die Reichen und die Großen, die von der Sonne der Huld des Königs besonders bestrahlt wurden, sondern auch die Armen, denen er Zeit seines Lebens ein Wohl- täter, ein Förderer und Befreier war, weinten um ihn. Noch ergreifender als in dem eleganten Viertel und in der Handels- welt gestalteten sich im Ostende Londons, wo zumeist einge- wanderte polnisch-russische Juden und zwar die Ärmsten der Armen wohnen, die Trauergottesdienste. Den Gefühlen von tausenden und abertausenden armer Israeliten gab der dortige Rabbiner Dr. Schawzik Ausdruck, als er in seiner Rede her- vorhob, daß die Masseneinwanderungen der vertriebenen Juden nach England unter König Eduard VII. nicht deshalb stattge- funden haben, weil in England das Geld auf der Straße liege, wie die Antisemiten behaupten, sondern weil dieser Monarch hervorragende Juden zu persönlichen Freunden hatte, die gleich ihm Beschützer ihrer bedrängten Glaubensgenossen auf der gan- zen Welt waren. In der großen Versammlungshalle des Lon- doner Ghettos, wo diese Trauerfeier stattfand, hatten sich weit über 4000 Israeliten eingefunden. Das Schluchzen der Anwe- senden unterbrach wiederholt die Rede des Dr. Schawzik. Be- sonders erschütternd wirkte sein Vergleich des Todestages mit dem Jom Kippur (Versöhnungsfest). Nach Verlesung des Ge- dächtnisgebetes für den Verblichenen und der Gebete für seinen Nachfolger, den König Georg, wurde Jigdal und Adon-Olam — So- mit Jörn Kippur-Melodien gesungen. Die National-Hymne be- schloß die würdige Feier. Es ist bezeichnend, daß die jüdischen Proletarier in \X^hite- chapel seit dem Tode des Königs Jahre hindurch schwarze Bänder und Schärpen trugen. Alle dortigen Jüdinnen legten Trauergewänder an. Solche „Hespedim" finden noch jetzt an- läßlich der Wiederkehr des Todestages des Königs statt, und es ist ergreifend, wie tausende von russischen und p>olnischen Juden aus allen Teilen herbeiströmen, um den tiefen Empfin- dungen des Dankes und der Pietät, die ihre Seelen erfüllen, im Gebete Ausdruck zu geben. Die englischen Juden hatten aber auch alle Ursache, aus tiefster Seele um ihn zu trauern, als Bürger Englands sowohl wie als Kaufleute. Sie vergossen auch Tränen um das Ableben des Friedensstifters! Nie hatte Eduard VII. einen Unterschied zwischen Juden und Nicht-Juden gemacht. Seinem väterlichen Herzen haben alle seine Untertanen gleich nahe gestanden. Man erzählte sich, daß ein armer polnischer Jude des Lon- doner Ghettos, der erst seit drei Wochen in London weilte, bei der Todesnachricht klagend ausbrach : „Wehe, wehe, unser guter Melach (König) ist toV In der Tat durften sowohl die Vor- nehmen als auch die auf der untersten Stufe der Gesittung stehenden notleidenden und armseligen Juden ihn als „unser" bezeichnen. War doch jeder Zoll an ihm ein König, ein voll- endeter Mensch, dem nichts Menschliches fremd war! Ich habe schon erwähnt, in welch gütiger und humaner Weise er sich einst einer israelitischen Deputation gegenüber über die staatsbürgerliche Stellung der englischen Juden geäu- ßert hatte. Auch bei einem anderen Anlaß bekundete er seine Sympathie durch die Worte, die er bald nach seinem Regierungs- antritt an einen hohen Staatsbeamten in Bezug auf die Juden- frage richtete: „Tun Sie alles, um die Lage dieses armen, großen Volkes zu heben." Bekannt waren seine freundschaftlichen Beziehungen zu den Börsen-Fürsten, den Rothschilds, Sassoons und anderen Israeliten, doch unterhielt er diesen innigen Verkehr nicht etwa aus diplomatischen Gründen, weil er als Vertreter einer Welt- handelsmacht mit den tonangebenden Börsenfürsten auf gutem Fuße stehen wollte, sondern aus persönlicher Zuneigung zu den — 87 — betreffenden Männern, die sich ihrer Glaubensgenossen mit größ- tem Eifer bei allen Anlässen annahmen, und die aus ihrem Juden- tum niemals Hehl machten. Man erzählte sich von ihm, daß er schon als Prinz von Wales seine philosemitische Gesinnung deutlich bekundete. Denn als ihn einst ein stolzer, ungarischer Magnat auf sein Schloß einlud, lehnte er diese Einladung aus dem Grunde ab, weil seinem Freunde Maurice v. Hirsch die Teilnahme an dieser Gesellschaft seines Glaubensbekennt- nisses wegen nicht gestattet worden war. In den Schlössern der Rothschilds und Sassoons pflegte der König mehrere Wochen im Jahre als Gast zu weilen. Speziell war es Leopold v. Rothschild, der seinem Herzen sehr nahe stand. Ebenso bevorzugte er den bereits wiederholt genannten Lon- doner Ober-Rabbiner Dr. Hermann Adler und dessen Familie. Wenn die englischen Blätter, die die Nekrologe auf den König veröffentlichen, genau unterrichtet waren, so hatte diese Zuneigung einen sehr interessanten Grund. Der Vater des ge- nannten Geistlichen, der Rabbi Nathan Adler, soll nämlich der königlichen Familie einen großen Dienst geleistet haben. Das erstgeborene Kind der Königin Viktoria war bekanntlich eine Tochter, die nachmalige Kaiserin Friedrich. Der englische Kron- prinz Eduard wurde erst später geboren. Nun warteten sowohl das britische Volk als auch die königliche Familie mit Unge- duld auf die Geburt eines Prinzen. Die Königin Viktoria, die Mutterfreuden entgegensah, war schwer erkrankt und weilte zur Erholung in Italien, und auf Anraten der Ärzte sollte die Mo- narchin während der Zeit ihrer Entbindung in Italien bleiben, womit auch die königliche Familie einverstanden war. Die Zei- tungsnachricht hierüber drang auch zu den Ohren des Rabbiners Nathan Adler, Er erbat sich eine Audienz beim Minister des Aus- wärtigen, ihn darauf aufmerksam machend, daß nach der eng- lischen Verfassung nur derjenige englische Prinz den Thron erben könnte, der auf englischem Boden das Licht der Welt erblickt habe. Sollte nun die Königin von England in Itahen einem Prinzen das Leben schenken, so wäre er nach der englischen Verfassung von der Thronfolge ausgeschlossen. Der Minister ver- ständigte hiervon den Hof, wo diese Mitteilung große Über- raschung und Bestürzung hervorrief, denn man hatte einfach — 88 — diese Eventualität nicht berücksichtigl. So wurde denn Königin Viktoria trotz ihres leidenden Zustandes nach England über- führt, wo sie bald darauf eines Prinzen, des Thronerben, genas. Die königliche Familie hat diesen Dienst dem Rabbi nie vergessen. Bekanntlich wurde Nathan Adler in dankbarer An- erkennung seines Ratschlages zum Chief-Rabbi von ganz Eng- land ernannt und gründete gewissermaßen selbst eine Rabbiner- Dynastie. Nach seinem Tode wurde sein Sohn Dr. Hermann Adler zum Chief-Rabbi ernannt, und wie der Alte, so erfreute sich auch sein Sohn der wärmsten Sympathien seitens des Königs. Während der Regierung Eduard VII. bekleideten hervor- ragende Politiker und Staatsmänner jüdischen Glaubens hohe Staatsämter, ohne daß sie sich zu taufen brauchten. Es waren dies unter anderem Samuel Speier, Samuel Marcus, Georg Phillipps und Arthur Cohen. Der genannte Sir Samuel Marcus wurde wiederholt zum Lord-Mayor von London gewählt, und diese Wahl wurde mit Freuden vom Könige bestätigt. Bezeichnend für das stolze Bewußtsein des jüdischen Lord-Mayors war der Um- stand, daß er zu dem feierlichen Bankett, das er als städti- sches Oberhaupt Londons alljährlich zu geben pflegte, alle frem- den Gesandten und nur nicht denjenigen Rumäniens wegen der judenfeindlichen Handlung des rumänischen Staates einlud. Auch folgte er nicht der an ihn gegangenen Einladung zu den Jubi- läumsfeierlichkeiten nach St. Petersburg, Wie sehr der König an den Grundsätzen der Gleichberechti- gung festhielt, wurde auch durch die Tatsache bewiesen, daß ein gläubiger Israelit Sir Matthew Nathan den wichtigen Posten eines Gouverneurs der Stadt Hongkong durch ihn erhielt. Dieser selbe Sir Matthew Nathan soll früher zum Mihtär-Attache der englischen Botschaft in Berlin bestimmt gewesen sein, doch soll diese Ernennung an dem von Berlin ausgehenden Widerstand gescheitert sein. Später wurde ihm der Posten des Gouverneurs der großen südafrikanischen Kolonie Natal zugewiesen. Als ein ferneres Zeichen der philosemitischen Gesinnung des Monarchen sei hier noch angeführt, daß das Amt eines Generaldirektors der Posten in Indien, der einen viel weiteren und einflußreicheren Wirkungskreis besitzt, als der deutsche — 89 — Staatssekretär des Reichspostamts, von dem Monarchen einem Juden namens Kisch überwiesen wurde. Demselben Bekennt- nis gehörte auch der Bürgermeister des Hauptortes des als antisemitisch verrufenen Britisch-Nordafrika, von Kapstadt, an, namens H. Liebermann. Er war zugleich erster Vorsteher der dortigen jüdischen Gemeinde, als welcher er am 13. Sep- tember 1905 die Eröffnung der großen neuen Synagoge in feier- licher Weise vollzog. Auch im britischen Kolonialstaat in Westaustralien ist von Eduard VII, die Verwaltung des Reichsdepartements einem Juden Matthew L. Moß übertragen worden. Dieser Moß war vorher schon zweimal Minister ohne Portefeuille. Ein sehr angesehener Israelit Isaak Alfred Isaacs, früher höchster Bundesanwalt des Staatenbundes von Austra- lien, wurde zum Mitglied des höchsten Bundesgerichtshofes des Landes ernannt. Der Philantrop und Führer der orthodoxen Partei unter den englischen Juden, Sir Samuel Montagu, wurde trotz seiner politisch-radikalen Richtung von dem König zum Lord Swaitthling ernannt. Später wurde er Unterstaatssekretär von Indien. Der Monarch nahm absolut keinen Anstoß daran, ihm sowohl wie den bereits genannten Herbert Samuel zu Ministem zu ernennen, ohne daß sie es nötig gehabt hätten, ihre Religion zu „chan- gieren**. Hier mag noch erwähnt werden, daß im Jahre 1907 in Kanada die dortigen Minister Patterson und Avles- wolth in einer jüdischen Versammlung erschienen, um im Namen des Königs die Erklärung abzugeben, daß beide die Einwanderung der unglücklichen Juden Rußlands nach England und Kanada mit voller Sympathie begrüßen und diesbezügliche Pläne gern unterstützen. In Kanada sei einem jeden Freiheit und bürgerliche Gleichheit gewährt. Wirklich wanderten dort schon während eines Jahres nicht weniger als 7127 Juden ein, worunter sich 6056 Russen be- fanden. Ihrer Beschäftigung nach zählten 183 zu Geschäfts- leuten, während 267 die Landwirtschaft und 1870 ein Handwerk betrieben, 389 gehörten dem Arbeiterstand und 5 dem Bergbau — 90 — an, welch statistische Daten in beredter Weise den oft erho- benen Vorwurf gegen die russischen Juden entkräften, als seien diese samt und sonders Schacherer und Hausierer. Hohe Achtung und lebhaftes persönliches Wohlwollen be- kundete der König auch für einen Engländer deutscher Abstam- mung, der früher dem Judentum angehörte, den hochgefeierten und hochverdienten Philanthropen Sir Ernest Cassel, den er zum Mitglied des Geheimen Rates ernannte. Bekanntlich hat dieser edle Wohltäter ein überaus hochherziges Werk zu Gun- sten des Ausgleichs von England und Deutschland auf dem Gebiete der Humanität vollbracht, indem er eine Stiftung von vier Millionen ins Leben rief, aus deren Zinsen notleidende Deut- sche in England und notleidende Engländer in Deutschland unter- stützt werden sollen. Mit dem englischen Königs- hat auch das deutsche Kaiserpaar das Protektorat über diese ebenso originelle wie großmütige Stiftung übernommen. Solch seltene Männer wie Sir Ernest Cassel tragen dazu bei, den Ruhm des deutschen Namens in England zu erhöhen. Dank der humanen und vorurteilslosen Gesinnung Eduard VII. hat das englische Parlament, das, wie man weiß, erst 1858 seine Pforten den jüdischen Abgeordneten öffnete, gegenwärtig etwa 20 Juden zu Mitgliedern, von denen mehrere eine hervor- ragende politische Stellung einnehmen. Im Hause der Lords sitzen drei Juden. Im County-Council (Verbandgemeinderat) von London befinden sich 12 Juden. Auch der Generalstaatsanwalt ist ein Jude. Unter den königlichen Geheimen Staatsräten gibt es vier Israeliten und unter den Barons 11. Das britische Heer, das bekanntlich nur aus Freiwilligen besteht, schließt sich nicht wie dies in manchen anderen Staaten der Fall ist, gegen die Juden ab. Es dienen darin 400 Mann, darunter 12 Offiziere. Eine sehr interessante Persönlichkeit, für die sich der Mo- narch stets interessierte, war der englische Oberst jüdischen Glau- bens Namens A. E. W. G o 1 d s m i d , der den afrikanischen Feld- zug des Generals Kelly-Kelly als Generalstabschef mitmachte. Über ihn habe ich mich an einer anderen Stelle, nämlich in meinem Werk „Berühmte israelitische Männer und Frauen in der Kulturgeschichte der Menschheit" mit folgenden Worten ge- — 91 — äußert: „Dieser jüdische othodoxe Oberst wurde als Sohn eines Marranen geboren und kehrte wie Uriel Acosta erst als er- wachsener Mensch zum Glauben seiner Väter zurück. Er war bereits Leutnant in der britischen Armee als er zum Judentum übertrat, was ihm aber nicht geschadet hat. Die militärische Stu- fenleiter rasch hinaufsteigend, war er Adjutant des Prinzen von Wales, als Baron Maurice von Hirsch einen Organisator für Ar- gentinien suchte. Der englische Thronfolger, der spätere König Eduard VII. von England, empfahl diesen tatkräftigen jüdischen Offizier dem Baron Hirsch. Oberst Goldsmid ließ sich beurlauben und ging mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern nach Ar- gentinien, um dort die Organisationen, Stiftungen für die armen Juden zu leiten. Zwei Dörfer in Argentinien tragen die Namen seiner Töchter Rachel und Carmel. Die Resultate der argenti- nischen Besiedelung waren, wie man weiß, nicht befriedigend, Goldsmid hat auch immer die Kolonisation von Palästina gefördert. Als er von Argentinien nach England zurückkehrte, bekam er das Landeskommando von Süd-Wales. Die armen Juden von Cardiff sahen dem Landeskommandierenden jeden Sonnabend in ihrer Synagoge, bei deren Einweihung die vornehmsten Leute der Stadt und des Landes zugegen waren . . Oberst Goldsmid war im August 1895 Höchstkommandierender bei den Manövern, die in Wales bei Postavel abgehalten wurden. Er befehligte mit glänzen- der Bravour ein Truppencorps von mehr als 5000 Soldaten, das aus regulären und Volontärabteilungen zusammengesetzt war.** Nie wird es dem Friedensfürsten vergessen werden, daß unter seiner Regierung England der einzige Staat in Europa war, der den aus Rußland vertriebenen Juden in gastfreundlicher Weise ein Asyl bot. Allen gesetzlichen Beschränkungen gegen diese Einwanderung abhold, war er aufs tiefste davon durch- drungen, daß die Freiheit in England ein unantastbares Out sei, und daß das edle und große Volk, wie er die Juden nannte, in einem konstitutionellen Musterstaat, wie England ist, eine Zu- fluchtsstätte finden müßte. Immer und immer, wenn einzelne Hetzer es versuchten, den Antisemitismus auch in England einzubürgern, bot er alle ge- setzlichen Mittel auf, um diese Pest schon im Keim zu er- sticken. — 92 — Als z. B. in Limerik, einer Stadt in Irland, der Priester Pater Czengh Hetzreden gegen die Juden hielt, infolgedessen große feindliche Ausschreitungen zum Ausbruch gelangten, ver- ordnete er gleich die energischsten militärischen Maßregeln, wodurch weiteres Unheil verhütet wurde. Dieser Friedensfürst, dessen Lebensmotto alle Zeit das echte altprophetische Wort war: „Frieden, ja Frieden, sei den Fernen und den Nahen" betätigte diesen seinen ethischen Grundsatz auch den Juden gegenüber in erhebendster Weise. Forscher und Gelehrte in ihren Beziehungen zum Judentum. Immanuel Kant Immanuel Kant, der unsterbliche Weltweise, der durch sein Genie eine neue Welt der Philosophie auf sicherer Grundlage errichtete und dem menschlichen Denken und Fortschritt ganz neue Wege ebnete, übte bekanntlich auf seine Zeitgenossen durch seine Persönlichkeit, noch mehr aber durch seine alles zermal- mende Lehre einen überaus nachhaltigen Einfluß aus. Es ist selbstverständlich, daß auch die jüdischen Denker, Forscher und Gelehrten von dem scharfsinnigen und zergliedernden System des Weisen von Königsberg mächtig angeregt wurden, denn die Art und Weise der Beweisführung, die dialektische Schlagfertig- keit und die rücksichtslose Wahrheitsliebe desselben hatten für die jüdischen Denker, die in der Schule des Talmud zum selb- ständigen Forschen und zur klaren logischen Beweisführung er- zogen wurden, etwas ungemein Anheimelndes und Sympathisches. So sehen wir denn, daß dieser größte Revolutionär auf dem Gebiete der neueren Philosophie auf die ringenden, strebenden und espritvollen Geister des jüdischen Stammes mächtig ein- wirkte, daß zu seinen Füßen zahlreiche Denker aus dem Hause Israel saßen, die dann die Verkünder der Lehre ihres Herrn und "Meisters wurden, daß viele jüdische Freunde des Königs- berger Weltweisen in Wort und Schrift ihm ihre Verehrung bekundeten, daß aber auch hervorragende jüdische Gestesgrößen ihn heftig befehdeten und bemüht waren, auf die Lücken und Schwächen seines Systems eindringlich hinzuweisen. Reden wir zuerst von den eigentlichen Schülern des Meisters jüdischen Glaubens. Unter diesen nimmt der bekannte fürstlich Waldecksche Leibarzt, Hofrat und Professor Dr. Markus Herz, der gefeierte Gatte der nicht minder gefeierten schönen Henriette Herz, der Begründerin des ersten Berliner Salons, einen der — 94 — vordersten Plätze ein. Immanuel Kant war diesem seinem Schü- ler stets in innigster Liebe zugetan, da er sich durch Scharfsinn auszeichnete und die Theorien des grundlegenden Denkers schon zu einer Zeit begriff, als dieselben für die meisten gebildeten Kreise noch wie ein Buch mit sieben Siegeln verschlossen waren. Als Kant, den Statuten der Universität gemäß, vor Antritt seiner Professur der Logik und Metaphysik an der Hochschule zu Kö- nigsberg eine lateinisch geschriebene Dissertation: „Über Form und Prinzipien der sinnlichen intelligiblen Welt" öffentlich ver- teidigen mußte, war sein Respondent sein Schüler Markus Herz — der beste Beweis dafür, daß der Königsberger Professor diesen seinen Jünger für würdig erachtete, um mit ihm über Ansichten zu disputieren, die bereits die Qrundzüge der kritischen Philo- sophie Kants in nuce enthielten, welche er freilich erst mehr als ein Jahrzehnt später in der „Kritik der reinen Vernunft" der Welt vor Augen führte. Als Herz bald darauf nach Berlin über- siedelte, um sich dort als Arzt dauernd niederzulassen, hielt er außerordentlich besuchte Vorlesungen über die Kantische Philosophie, welche in den wissenschaftlichen und literarischen Kreisen der Metropole sehr großen Anklang fanden. Die beiden blieben seitdem in regem Briefwechsel, und die zahlreichen Zuschriften, welche Kant seinem Schüler und Freunde sandte, beweisen, daß der Denker, der sonst ein ziemHch nach- lässiger Briefschreiber war, den geistvollen Berliner Arzt in sein Herz geschlossen hatte, wie denn auch dieser stets in Aus- drücken wärmster Verehrung und innigster Anerkennung von seinem „ewig unvergeßlichen Lehrer" spricht. Dieser Briefwechsel ist auch an und für sich von hohem Wert, da darin manche bedeutsame Fragen der Philosophie an- geschnitten werden, und die Persönlichkeiten der beiden Männer in vielfacher Beziehung in neuer Beleuchtung erscheinen. Am 7. Juni 1771 sandte Kant an Herz einen Brief, der einen Umfang von mehreren Druckbogen hatte. Der Königs- berger Philosoph legte darin in großen Zügen die Theorien sei- nes Systems dar und zwar so lichtvoll und eindringUch, daß wir eine solche Frische und Fülle der Gedanken nur noch in den besten Werken Kants wiederfinden. Der Weltweise gab wiederholt seiner Freude darüber Aus- druck, daß Markus Herz in Wort und Schrift bestrebt war, in — 95 — seinen Kreisen die Kantische Lehre volkstümHch zu machen. Mit lebhaftem Interesse verfolgte er* die literarische Tätigkeit desselben und er geizte nicht mit Lob, wenn er das eine oder das andere an ihm zu loben hatte. Auch in seiner Eigenschaft als vielbeschäftigter, viel ge- suchter und erfolgreicher Arzt wird Markus Herz von dem wieder- holt kränkelnden und namentlich an Verdauungsstörungen leiden- den Philosophen in Anspruch genommen, indem dieser sich an jenen wendet, daß er ihm wirksame Arzneien für seine vielen Übel zusende. Besonders geschieht dies in einem Brief Kants vom 12. August 1777, worin er klagt, daß sein Arzt und guter Freund, Dr. Trümmer, nicht imstande sei, seine Leiden zu heben. Alle Briefe des Schülers an den innig verehrten Meister sind in Ausdrücken voll Begeisterung und überschwenglicher Ver- ehrung, aber auch voll Dankbarkeit für ihn abgefaßt. Gleich im Anfang seiner Berliner Wirksamkeit beeilt sich Markus Herz, dem Philosophen den Ausdruck seiner tiefen Bewunderung zu Füßen legen. So heißt es in einem seiner Briefe aus jener Zeit: „Der bloße Gedanke an Sie setzt meine Seele in eine ehr- furchtsvolle Erstaunung, und mit vieler Mühe nur bin ich als- dann fähig, mein zerstreutes Bewußtsein wieder zu sammeln und meine Gedanken fortzusetzen. Sie allein sind es, dem ich meine glückliche Veränderung des Zustandes zu danken habe, dem ich ganz mein Selbst schuldig bin ; ohne Ihnen würde ich noch jetzo gleich so vielen meiner Gebrüder gefesselt am Wagen der Vorurteile ein Leben führen, das einem jeden viehischen Leben nachzusetzen ist; ich würde eine Seele ohne Früchte haben, einen Verstand ohne Tätigkeit, kurz ohne Ihnen wäre ich dies, was ich vor vier Jahren war, das ist, ich wäre nichts." Und ein andermal, fünfzehn Jahre später: „Ha, das waren Zeiten, da ich so ganz in der lieben Philosophie und ihrem Kant lebte und webte, da ich mit jedem Tage mich vollkommener und ge- bildeter als den Tag vorher fühlte, da ohne Nahrungsgewerbe, frei von Sorgen, es werde mir meines Lehrers Beifall und Auf- munterung gewährt mein einziger Morgen- und Abendwunsch war, und der mir so oft gewährt wurde!" Wie gering Markus Herz sein eigenes Talent einschätzte, wenn er das unvergleichliche Genie seines Lehrers damit ver- gUch, das erkennt man am besten aus einem in der handschrift- — ge- liehen Sammlung der Briefe an Kant auf der Königl. Bibliothek zu Königsberg befindlichen Schreiben des Schülers vom 25. De- zember 1797, dessen charakteristischen Wortlaut wir hier folgen lassen : „Verehrungsvvürdiger Lehrer! Der große, allen bekannte Merckel verlangt dem großen alles kennenden Kant durch mich, den so wenig bekannten und so wenig kennenden Herz, empfohlen zu sein, und ich würde mit der Befriedigung dieses überflüssigen Verlangens großen An- stand genommen haben, wenn sie nicht zugleich eine so ge- wünschte Veranlassung wäre, meinen Namen wieder einmal in dem Andenken meines unvergeßlichen Lehrers und Freundes aufzufrischen, und ihm wieder einmal zu sagen, welche Selig- keit die Erinnerung an die ersten Jahre meiner Bildung unter seiner Leitung noch immer über mein ganzes Wesen verbreitet, und wie brennend mein Wunsch ist, Sie in diesem Leben noch einmal an mein Herz zu drücken! Warum bin ich nicht ein großer Geburtshelfer, Staarstecher oder Krebsheiler, der einmal über Königsberg zu einem vornehmen Russen gerufen wird? — Ach, ich habe leider nichts in der Welt gelernt! Die wenige Geschicklichkeit, die ich besitze, ist auf jedem Dorfe in Kamt- schatka zehnfach zu haben, und darum muß ich in dem Berlin versauern und auf das Glück, Sie, ehe einer von uns die Erde verläßt, noch zu sehen, auf immer resignieren ! Um so stärkender ist mir dafür jede kleine Nachricht von Ihnen aus dem Munde eines Reisenden, jeder Gruß, den ich aus den Briefen eines Freundes von Ihnen erhalte. Laben Sie mich doch öfter mit diesen Erquickungen und erhalten mir noch lange Ihre Gesundheit und Freundschaft. Ihr ergebenster Markus H erz." Der also Gefeierte verwahrte sich freilich oft gegen den in seinen Augen übertriebenen Freundschafts - Kultus seines Zöglings. Zugleich spricht sich in diesen abwehrenden Briefen Kants seine ganze, in ihrer Art einzig dastehende Bescheidenheit aus. So schreibt er einmal als Antwort auf die ihm von Herz zugesandte Schrift: „Von der Verschiedenheit des Geschmacks" unter anderem : „Eine Stelle in derselben liegt mir im Sinn, — 97 — über die ich Ihrer parteilichen Freundschaft gegen mich einen Vorwurf machen muß. Der mir in Parallelen mit L e s s i n g er- teilte Lobspruch beunruhigt mich ; denn in der Tat, ich besitze noch keinen Verdienst, was desselben würdig wäre. Es ist, als ob ich den Spötter zur Seite sehe, mir solche Ansprüche beizu- messen und daraus Gelegenheit zum boshaften Tadel zu ziehen.'' Das innige Freundschaftsverhältnis, welches zwischen dem Meister und Jünger so viele Jahrzehnte hindurch bestand, legt nicht allein von den hohen Gaben des Geistes, sondern auch von denen des Gemüts, die beiden eigen waren, ein schönes und rührendes Zeugnis ab. Einer der eifrigsten und überzeugtesten Kantianer, der sich zugleich große Verdienste um die Popularisierung der Kantischen Philosophie erworben hat, war der geistreiche . Philosoph und Mathematiker Lazarus Bendavid, geboren 18. Oktober 1762 in Berlin und gestorben daselbst 1832. Aus Begeisterung für das System und die Lehren des von ihm schwärmerisch ver- ehrten Meisters siedelte er nach Wien über, um dort Jünger für dieselben zu werben. Seine Vorlesungen, von Hunderten von Zuhörern aus allen Kreisen und Ständen besucht, fanden außer- ordentlichen Anklang und zündeten so gewaltig, daß die re- aktionäre Regierung sich vor dem Geist der Aufklärung, der sich in den beredten Ausführungen von Bendavid bekundete, fürchtete und deshalb die Vorlesungen verbot, so daß es Ben- david für geraten hielt, den Wiener Staub von seinen Füßen zu schütteln und 1797 wieder nach Berlin zurückkehrte. Dieser Kantianer war übrigens der erste, dem in Wien von dem da- maligen Polizeipräsidenten Grafen v. Saurau die bis dahin noch nie einem Ausländer erteilte Erlaubnis gegeben wurde, öffentliche Vorlesungen halten zu dürfen. Um eine Probe von der ebenso philosophischen wie zu- gleich auf monotheistischer Grundlage fußenden Anschauungs- und Darstellungsweise von Lazarus Bendavid, der keinen Augen- blick sein Judentum verleugnete, zu geben, will ich hier nur aus seinem Vortrag: „Über den Zweck der christlichen Philosophie" („Vorlesungen über die Kritik der Urteilskraft", Seite 28 ff) einen Passus mitteilen, also lautend: „Immanuel Kant unter- suchte 15 Jahre den Grund aller bisherigen Systeme und fand. Kohut, Gekrönte und ungekrönte Judenfrtunde. 7 — 98 — daß es dem Menschen nicht vergönnt sei, das Dasein des kleinsten Wurmes durch bloße Schlüsse zu beweisen, nur dann erst, wenn eigene Erfahrung oder die Geschichte ihn über das Dasein einer Sache belehrt, kann er deren Eigenschaft durch Schlüsse entdecken, nur dann wissen, daß es da sei. Aber diese Untersuchung bedurfte einer Prüfung der Vernunft selbst; es mußte den Anmaßungen der Vernunft selbst ihre Grenze ge- zogen werden, wenn sie den Menschen nicht abermals in jene Irrgänge unwillkürlich mit sich fortreißen, wenn der grillen- hafte Idealist, der gefährliche Skeptizist und der kühne Dogmatist gutwillig einräumen sollen, daß sie gefehlt haben. Darauf lehrt nun dieser Weltweise, daß, wenn Gott uns nicht die Gnade erzeigt hätte, sein Dasein uns zu offenbaren, wir es nie durch Schlüsse unserer schwachen Vernunft bis zur völligen Gewiß- heit herausbringen könnten ; lehrt, daß wir durch die von dem ewigen Wesen uns verliehene Vernunft den Alfschöpfer als den heiligen Gesetzgeber der Moralität betrachten müssen; lehrt, daß die Tugend des Menschen sich nicht auf Furcht vor Strafe oder Hoffnung zur Belohnung, sondern auf den Gedanken gründen müsse, daß er dadurch in den Augen ,des Allwissenden der Glückseligkeit würdig werde; lehrt, daß diese Glückseligkeit nur durch eine ewige Fortdauer des Menschen erreicht werden könne ; und endlich, daß selbst das Gefühl des Erhabenen nur dann uns mit Wohlgefallen erfüllen könne, wenn der Gedanke an Gott und Unsterblichkeit dies Gefühl belebt. Wie heilsam für Religion und Staat sind diese Lehren, wie wohltätig für den Denker!" Der Kantischen Philosophie unverbrüchlich treu, wandte er sich später von Kants Nachfolgern ab, weil er mit ihnen nicht in allen Punkten übereinstimmte und pflegte dann hauptsächlich hebräisch-archäologische Forschungen. Einer der originellsten, eigenartigsten und zugleich scharf- sinnigsten Philosophen aus der Schule Kants war der auf dem fürstlich Radziwillschen Gute Sokuwiburg am Niemen 1754 ge- borene und in Nieder-Siegersdorf in Schlesien im Jahre 1800 auf dem Gute seines Gönners des Grafen Kaikreuth gestorbene S a l o - mon Maimon. Während jedoch Lazarus Bendavid, soviel wir wissen, mit Kant nie in eine briefliche oder persönliche Beziehung trat, war der polnisch-jüdische Denker Salomon Maimon wiederholt bemüht, mit dem Königsberger Weisen persönlich Fühlung zu — 9Q — nehmen. Er hat eine hochinteressante „Lebensgeschichte" *) ver- faßt und darin erzählt er über die ersten Schritte seiner Annäherung an Kant u. a. das Folgende: „Mendelssohn, als ich nach Berlin kam, lebte nicht mehr und meine ehemaligen Freunde wollten von mir nichts wissen ; ich wußte also nicht, was ich anfangen sollte. In der größten Not kam Herr Bendavid zu mir und sagte, daß er von meinen mißlichen Umständen gehört und für mich eine kleine Kollekte von ungefähr 30 Talern zusammen- gebracht habe, die er mir übergab .... Ich beschloß nun, Kants „Kritik der reinen Vernunft", wovon ich oft hatte sprechen hören, die ich aber noch nie gesehen, zu studieren. Die Art, wie ich dieses Werk studierte, ist ganz sonderbar. Bei der ersten Durchlesung bekam ich von jeder Abteilung eine dunkle Vorstellung, nachher suchte ich diese durch eigenes Nachdenken deutlich zu machen und also in den Sinn des Verfassers einzu- dringen, das das Eigentliche ist, was man sich in ein System hineindenken nennt. Da ich mir aber auf diese Art schon vor- her Spinozas, Humes und Leibnizs System zu eigen gemacht hatte, so war es natürlich, daß ich auf ein Koalitionssystem be- dacht sein mußte; dieses fand ich wirklich und setzte es auch in Form von Anmerkungen und Erläuterungen „über die Kritik der reinen Vernunft" nach und nach auf, so wie dieses System sich bei mir entwickelte, woraus zuletzt meine „Transcendental- Philosophie" entstand .... Als ich dieses Werk vollendet hatte, zeigte ich es Herrn . . . (Maimon nennt Herz nicht, aber wir wissen aus dem Briefwechsel Kants, wessen Name hier Maimon aus unerklärlichen Gründen verschweigt). Dieser ge- stand, daß er zwar zu Kants vornehmsten Schülern gezählt wurde und seinen philosophischen Vorlesungen aufs fleißigste beige- wohnt habe, doch aber nicht imstande sei, die Kritik zu be- urteilen; er riet mir daher, mein Manuskript geradezu an Kant selbst zu schicken und es seinem Urteil zu unterlegen, versprach mir auch, dasselbe mit einem Schreiben an den großen Philo- sophen zu begleiten." Salomon Maimon, erhaben über Zeit und Raum und an pol- nische Wirtschaft gewöhnt, gibt in seiner „Lebensgeschichte" fast *) Herausgegeben von K. P. Moritz. Berlin 1792, bei Friedrich Vieweg dem älteren. 2 Bände. 7' — 100 — nie eine Jahreszahl an, aber wir wissen, daß es im Jahre 1789 war, als er durch Vermittelung von Markus Herz an Immanuel Kant schrieb, diesem seinen Versuch einer Transcendental-Philosophie zusendend. Das Gutachten Kants ließ geraume Zeit auf sich warten, es erfolgte in einem Schreiben an Herz vom 26. Mai 178Q in für den Verfasser sehr schmeichelhaften Ausdrücken. Es heißt da u. a.: „Herrn Maimons Schrift enthält übrigens so viele scharf- sinnige Bemerkungen, daß er sie nicht ohne einen für ihn vor- teilhaften Eindruck immer hätte ins Publikum schicken können, auch ohne im mindesten mir hierdurch zuwider zu handeln, ob er gleich einen ganz anderen Weg nimmt als ich, denn er ist doch darin mit mir einig, daß mit der Festsetzung der Prinzipien der Metaphysik eine Reform vorgenommen werden müsse, von deren Notwendigkeit sich nur wenige wollen überzeugen lassen. Allein, was Sie, werter Freund, verlangen, die Herausgabe dieses Werkes mit einer Anpreisung meinerseits zu begleiten, wäre nicht wohl tunlich, da es doch großen Teils auch wider mich gerichtet ist. Das ist mein Urteil, im Falle diese Schrift herausgekommen wäre. Wollen Sie aber meinen Rat in An- sehung des Vorhabens, sie so wie sie ist herausgeben, so halte ich dafür, daß, da es Herrn Maimon vermutlich nicht gleich- gültig sein wird, völlig verstanden zu werden, er die Zeit, die er sich zur Herausgabe nimmt, dazu anwenden möge, ein Gan- zes zu liefern, in welchem nicht bloß die Art wie er sich die Prinzipien der Erkenntnis a priori vorstellt, sondern auch was daraus zur Auflösung der Aufgaben der reinen Vernunft, welche das Wesentliche vom Zwecke der Metaphysik ausmachen, nach seinem System gefolgert werden könne, deutlich gewiesen werde, wo denn die Antinomien der reinen Vernunft einen guten Pro- bierstein abgeben können, die ihn vielleicht überzeugen werden, daß man den menschlichen Verstand nicht für spezifisch einerlei mit dem göttlichen und nur durch Einschränkungen, das ist dem Grade nach, von diesen unterschieden annehmen könne, daß er nicht wie dieser als ein Vermögen anzuschauen, sondern nur zu denken müsse betrachtet werden, welches durchaus ein davon ganz verschiedenes Vermögen oder Rezeptivität der Anschauung zur Seite oder besser zum Stoffe haben müsse, um Erkenntnis — 101 - hervorzubringen und daß, da die letztere, nämlich die Anschau- ung, uns bloß Erscheinungen an die Hand gibt und die Sache selbst ein bloßer Begriff der Vernunft ist, die Antinomien, welche gänzlich aus der Verwechslung beider entspringen, nie- mals aufgelöst werden könnten, als wenn man die Möglichkeit synthetischer Sätze a priori nach meinen Grundsätzen deduziert." Zugleich richtete Kant an Maimon selbst anläßlich der Zu- rücksendung des Manuskriptes mit der „fahrenden Post** die folgende Zuschrift: „Ew. Wohledelgeboren Verlangen habe ich, soviel als für mich tunlich war, zu willfahren gesucht und wenn es nicht durch eine Beurteilung Ihrer ganzen Abhandlung hat geschehen können, so werden sie die Ursache dieser Unterlassung aus dem Briefe an Herrn Herz vernehmen. Gewiß ist, daß es nicht Verachtung, die ich gegen keine ernstliche Bestrebung in vernünftigen und die Menschen interessierenden Nachforschungen, am wenigsten aber gegen eine Sache wie die Ihrige ist, bei mir hege, die in der Tat kein gemeines Talent zu tiefsinnigen Wissenschaften verrät." Salomon Maimon, dem hier von Kant ein so glänzendes Zeugnis ausgestellt wurde, war, keine all zu lange Reihe von Jahren zuvor, von glühendem Durst nach Wissenschaft ge- trieben, aus seiner polnischen Heimat aufgebrochen und, kaum eines deutschen Wortes mächtig, im Gewand und Aufzug eines Bettlers nach mühevoller Wanderung durch die Tore Berlins eingezogen. Chamissos berühmtes Gedicht „Abba Glosk Leczeka", die Geschichte des blutarmen jüdischen Ketzers, der, von heißer Be- gierde nach Wahrheit gestachelt, von seinen unduldsamen Glau- bensgenossen verjagt, aus dem innersten Polen nach Branden- burg pilgert, um in Berlin Moses Mendelssohns Rat und Unter- richt zu genießen, steHt das poetische Seitenstück zu Salomon Maimons wirklichem Lebensschicksal dar. Der Kritiker, welcher den Mut und den Scharfsinn besaß, Kants Kritik „n a c h z u - besser n", war unter den unwürdigsten Lebensverhältnissen und ohne anderen als talmudischen Unterricht emporgewachsen. Groß war die Freude des armen Denkers, als er von Kants oben angeführten Auslassungen Kunde erhielt; besonders das Zeugnis des Königsberger Philosophen, daß Maimon ihn wohl — 102 — verstanden habe, machte ihn glücklich. „Dadurch wurde", wie er in seiner „Lebensgeschichte" sagt, „einigen stolzen Kantianern, die im Alleinbesitz der kritischen Philosophie zu sein glauben und daher jede Einwendung, obschon sie nicht auf eine eigent- liche sogenannte Widerlegung, sondern auf eine nähere Aus- führung dieser Philosophie abzielt, ohne Erweis mit der bloßen Behauptung: Der Verfasser hat Kant nicht verstanden, ab- fertigen, die Gelegenheit genommen, sich eben derselben gegen dieses Buch zu bedienen, indem ich nach eigenem Zeugnis des Urhebers dieser Philosophie mich eben dieses Arguments mit mehrerem Recht gegen diese Herren bedienen kann." Gleich nach Eintreffen von Kants Briefen ließ er dieses sein Werk betitelt: „Versuch über die Transcendental-Philosophie" (Berlin 1790) erscheinen. Kant selbst nahm diese „Nachbesserung" seines Kritikers, als sie im Druck erschienen war, nicht sehr sympathisch auf; so schrieb er am 28. März 1794 an seinen Freund, den Philo- sophen Karl Leonhard Reinhold, die bitteren Worte: „Was z. B. ein Maimon mit seiner Nachbesserung der kritischen Philosophie, dergleichen die Juden gern versuchen, um sich auf fremde Kosten ein Ansehen von Wichtigkeit zu geben, eigentlich wollte, habe ich nie recht fassen können und muß dessen Zurechtweisung anderen überlassen" — welch abfälliges Urteil im diametralen Widerspruch zu dem schmeichelhaften Gutachten steht, welches der Königsberger Denker fünf Jahre vorher über dasselbe Ma- nuskript abgegeben hat. Wieder fünf Jahre nach diesem Brief, am 7, August 1797, sprach Kant in seiner Erklärung über die Wissenschaftslehre Fichtes seine Überzeugung aus, daß der kritischen Philosophie weder in theoretischer noch in moralischer Hinsicht „Nachbesserung" bevorstehe, maß also Maimon und Fichte mit demselben Maße. Dieser erblickte seinerseits in jenem einen Bundesgenossen. Er sandte Maimon ein Exemplar seiner im Jahre 1794 herausgegebenen ersten „Wissenschafts- lehre" zu und versicherte ihn seiner „unbegrenzten Hochachtung für sein philosophisches Talent". Beide haben miteinander noch öfter Briefe gewechselt. Zwei Briefe von Maimon, worin er für die ihm übersandten Schriften dankt und auf Fichtes Einladung, an der „Allgemeinen Literaturzeitung" mitzuwirken, erwidert, sind in dem Briefwechsel Fichtes aufgenommen. Fichte suchte - 103 — das von Maimon begonnene Werk zu vollenden, indem er der Empfindung auch den Rest des Fremdartigen abzustreifen be- müht war, den sie als „im Bewußtsein vorgefundenes" an sich trug, und sie als „durch das Bewußtsein hervorgebrachtes" dar- stellte. Aber auch seine Produktion stieß an die „unbegreif- lichen Schranken des Ich". Das „Unerklärte" im Bewußtsein, „der dunkle Fleck" Maimons, die Wurzel des Realismus, kehrte in anderer Form wieder. Weder der trascendentale noch der absolute Idealismus haben sie zu überwinden vermocht. *) Über Kant und seine Lehre veröffentlichte Salomon Maimon noch verschiedene andere Abhandlungen, namentlich in dem Berliner „Journal für Aufklärung". So verfaßte er z. B. einen Aufsatz „Bacon und Kant", worin er eine interessante Parallelle zwischen den Forschungen der beiden Reformatoren der Philo- sophie anstellt, darin zu den folgenden Ergebnissen gelangend: Beide stimmen darin überein, daß die Logik eine bloße formelle, nicht aber eine reelle Erkenntnis liefern kann. Beide erklären es daher für einen Mißbrauch des Denkens, wenn man das bloß Formelle durch sich selbst zu realisieren sucht, wie es die Metaphysiker gemeiniglich tun, ohne auf die Natur des Reellen (Materiellen) und die Bedingungen seiner Subsunktion unter dem Formellen Rücksicht zu nehmen. Sie unterscheiden sich bloß in dem Weg, den sie zur Abschaffung dieses Mißbrauchs einschlagen. Bacon wählt den Weg der Induktion und zeigt die Methode an, dieselbe immer vollständiger zu machen. Kant hingegen beschäftigt sich mit der Analyse des Erkenntnisvermögens. Jener ist mehr für die Wirklichkeit der Gegenstände, dieser hin- gegen mehr für die Reinheit der Form der Erkenntnis und die Rechtmäßigkeit ihres Gebrauchs besorgt. Endlich ist die Methode, die jener wählt, fruchtbarer, obschon die Evidenz nach derselben geringer ist. Die Methode, die dieser wählt, ist weniger fruchtbar, hingegen die Evidenz nach derselben die allerstrengste. Salomon Maimon unterließ es nicht, ein Exem- plar dieser Abhandlung seinem Meister Kant mit einem Be- gleitschreiben zugehen zu lassen. So viel mir bekannt geworden, antwortete Kant auf diese Zuschrift nicht, wohl aber übersandte er ihm ein Exemplar seiner *) Vergleiche auch: Salomon Maimon, von Dr. J. H. Witte, Berlin 1876 und Deutsche Revue, März 1878, von Robert Zimmermann: Der Jude Kants. — 104 — „Kritik der Urteilskraft", wofür Salomon Maimon in einer Zu- schrift vom 15. Mai 1790 in den wärmsten Ausdrücken dankt, indem er unter anderem schreibt: „Für das mir gütigst über- sandte Geschenk, woraus ich Ew. Wohlgeboren freundschaft- liche Gesinnung ersehe, welche mir sehr teuer ist und worauf ich stolz zu sein Ursache habe, sage ich Ihnen den allerverbind- Uchsten Dank". Der Raum gestattet es mir leider nicht, den sehr ein- gehenden philosophisch-kritischen Brief Maimons hier abdrucken. Er befindet sich in Kants Briefwechsel, Band II, herausgegeben von der Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1900), Seite 169 ff. Ein anderer Brief Maimons vom 20. September 1791, der schon eine kleine Abhandlung genannt werden kann, so wie noch einer vom 2. Dezember 1793 sind gleichfalls dort (Seite 272 ff bezw. Seite 452 ff) zu lesen. Er schließt dieses letzte Schreiben mit den Worten: „Ich bin jetzt damit beschäftigt, eine Logik auszuarbeiten; werde mich also glücklich schätzen, wenn ich Ihre Meinung so- wohl über den Plan, als über die mögliche Ausführbarkeit des- selben erhalten und zur Richtschnur meiner Arbeit machen könnte. In Erwartung dessen verbleibe ich wie immer mit aller Hochachtung und innigster Freundschaft Ew. Wohlgeboren ergebenster Diener S. Maimon." Die „Nachbesserung" Immanuel Kants war Maimons glän- zendste kritisch-philosophische Leistung, und als Vorläufer des Idealismus hat er seinen Namen mit goldenen Lettern in die Geschichte der Philosophie eingezeichnet. Auf dem Gute seines schon genannten Gönners, des Grafen Kaikreuth, eines An- hängers Fichtes, fand der rastlos Umhergetriebene einen sorgen- freien Zufluchtsort, nachdem neue Verfolgungen ihn bewogen hatten, Berlin zu verlassen. Hier starb er, wie schon erwähnt, im Jahre 1800 als ein Beispiel, wie der Herausgeber seiner Lebens- beschreibung, K. P. Moritz, treffend sagt, „wie die Denkkraft auch unter den ungünstigsten Umständen sich entwickeln kann und wie der echte Trieb nach Wissenschaft sich durch Hin- dernisse nicht abschrecken läßt, die unübersteiglich scheinen." — 105 — Für die Lebensgeschichte der beiden Philosophen sowohl als auch für die moderne Philosophie in hohem Grade interessant, wichtig und tief einschneidend waren die Beziehungen zwischen dem Weisen von Königsberg und dem „modernen Sokrates", dem größten Popular-Philosophen des 18. Jahrhunderts und Ger- manisator des deutschen Judentums, Moses Mendelssohn, die wir hier auf Grund der Quellen eingehender schildern wollen. Es ist heutzutage in gewissen Kreisen der zünftigen Philo- sophen gang und gäbe, über Moses Mendelssohns Philosophie im allgemeinen und seine Verdienste um die Entwicklung des freien und unabhängigen Denkens die Achsel zu zucken, ja, ihn in gewissem Maße geringschätzig zu behandeln, wenn ihm Immanuel Kant gegenübergestellt wird. Und dennoch muß es hier ausgesprochen werden, daß dieser größte Jude des 18. Jahrhunderts gewissermaßen ein Vorläufer Kants war, ja sich um diesen selbst wesentliche Verdienste erworben hat. Im April 1757 schrieb Moses Mendelssohn im 4. Stück der von seinem Freunde Friedrich Nicolai herausgegebenen „Bib- liothek" eine berühmt gewordene Abhandlung: „Über das Er- habene und Naive in den schönen Wissenschaften", worin er für das Erhabene und Naive ein besonderes System aufzustellen sucht. Diese Abhandlung hat wohl hauptsächlich Lessing zu dem Entschluß gebracht, des bekannten englischen Philosophen Burkes Werk: „Über das Schöne und Erhabene" ins Deutsche zu übersetzen. *) Eine Fortsetzung seiner philosophisch-ästhe- tischen Anschauungen war Mendelssohns im Jahre 1761 er- schienene „Rhapsodie der Empfindungen", worin er eine ganz neue Theorie der gemischten Empfindungen gibt. Hätte er dieselbe mit Konsequenz verfolgt, so wäre es ihm, wie Kayser- ling mit Recht bemerkt, ein leichtes gewesen, zu der Lehre vom Schönen zu gelangen, welche Kant in der „Kritik der Urteilskraft" etwa 30 Jahre später aufstellte. Arbeitete er doch dem Königsbei^er Alten wie in manchem anderen auch darin vor, daß er die Ästhetik zur Empfindungslehre erhob, ein Ver- dienst, das ihm der Ästhetiker Vischer**) sehr hoch anrechnet. *) Vergl.: Moses Mendelssohn. Sein Leben und Wirken von M. Kayserling. Leipzig 1888. **) Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen.. Reutlingen 1856. — 106 — Er konnte aber der allgemeinen Strömung der Zeit nicht völlig Widerstand leisten und machte das Ästhetische der Beförderung der Moralität dienstbar. Aus seiner Abhandlung „Über das Er- habene** schöpften Philosophen wie Kritiker bis zum Ende des 18. Jahrhimderts Anregung und Belehrung und noch Friedrich Schiller, obgleich er sich zu den Grundsätzen Kants bekannte, benutzte Mendelssohns Darlegungen. Ebenso zog aus seiner Theorie über die Empfindungen, wie er sie namentlich in der „Rhapsodie** aufstellte, erst Kant die letzten entscheidenden Konsequenzen, Die erste Begegnung zwischen Mendelssohn und Kant er- folgte auf dem Wege der Konkurrenz. Die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin hatte für das Jahr 1763 als Preis- aufgabe gestellt: „Ob die metaphysischen Wissenschaften einer solchen Evidenz fähig sind wie die mathematischen** und an der Lösung derselben beteiligten sich die beiden Philosophen, der eklektische Mendelssohn wie der kritische Kant. Die in deutscher Sprache eingereichte Abhandlung des ersteren: „Über die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften** wurde von der Akademie in ihrer öffentlichen Sitzung mit dem Preise, bestehend in 50 Dukaten, gekrönt, während Kant, dessen Abhandlung an Schärfe der Beweisführung diejenige Mendelssohn weit übertraf, nur das Accessit zuerkannt wurde. Dieser Sieg des Berliner Denkers über seinen Kollegen in Königsberg machte ihn keines- wegs übermütig und in seinem bescheidenen, ja demütigen Sinn schrieb er hierüber, am 20. November 1763, an seinen Freund Thomas Abbt u. a. : „Glauben Sie ja nicht, daß ich mir ein- bilde, gesiegt zu haben, weil die Akademie mir den Preis zuer- kannt hat; ich weiß gar wohl, idaß im Kriege nicht selten der schlechtere General den Sieg davon trägt. Wir müssen den Streit unter uns ausmachen. Wenn ich Sie nicht überzeuge, so ist dieses Beweises genug, daß meine Gründe die erwünschte Evidenz nicht haben**. *) Die Preisschrift „Über die Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften** wurde zusammen mit der Kants gedruckt**), •) Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften. Leipzig 1843-1845. Band V. Seite 278. ♦*) Berlin 1764. 2. Auflage 17S6. — 107 — ins Lateinische und ins Französische übersetzt und so rückten die beiden Nebenbuhler um die Palme des Erfolges literarisch einander immer näher. Beide ebenso edle wie scharfsinnige Geister kannten jedoch absolut keinen Neid und keine Eifersucht, und so machen wir denn die erfreuliche Wahrnehmung, daß sie bestrebt waren, durch einen regen Briefwechsel sich einander auch persönlich zu nähern und in anregendem Gedankenaustausch ihren Ideen und Anschauungen Ausdruck zu geben. .Wie es scheint, war Mendelssohn derjenige, welcher sich zuerst Kant auf brieflichem Wege genähert hat und die Be- reitwilligkeit, womit der Königsberger Denker die ihm darge- reichte Hand ergriff, veranlaßte seinen Berliner Genossen, die Korrespvondenz freudig fortzusetzen. In derselben herrschte denn auch ein achtungsvoller und freundschaftlicher Ton, der überaus sympathisch berührt und von der reinen, uneigennützigen, nur der Wissenschaft und der Freiheit des Denkens dienenden Le- bens- und Weltanschauung des glänzendsten Dioskurenpaares der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert ein rühmliches Zeug- nis ablegt. Greifen wir aus der Fülle dieses Briefwechsels einige zur Beurteilung dieses freundschaftlichen Verhältnisses dienende Mo- mente heraus. Zuerst werde ein Brief Kants an Mendelssohn *) vom 7. Februar 1766 auszugsweise mitgeteilt, der um so interessanter ist, als darin auf gewisse Vorgänge in der Königsberger jü- dischen Gemeinde um jene Zeit hingewiesen wird; er lautet: „Es gibt keine Umschweife von der Art, wie sie die Mode verlangt, zwischen zwei Personen, deren Denkungsart durch die Ähnlichkeit der Verstandsbeschäftigung und die Gleichheit der Grundsätze einstimmig ist. Ich bin durch dero gütige Zuschrift erfreut worden und nehme Ihren Antrag wegen künftiger Fort- setzung der Korrespondenz mit Vergnügen an. Herr Mendel Koshmann hat mir den jüdischen Studenten Leon zusamt dero Empfehlung zugeführt. Ich habe ihm sehr gern meine Kollegien und andere Dienstleistungen zugestanden. Allein vor einigen •) Immanuel Kant. Briefe, Erklärungen, Fragmente und sein Nachlaß. Herausgegeben von Friedrich Wilhelm Schubert. Leipzig 1842. Seite 5 ff . — 108 — Tagen ist er zu mir gekommen und hat sich erlclärt, daß er sich der Gelegenheit, welche die jetzigen polnischen Zufuhren geben, bedienen wolle, um eine kleine Reise zu den Seinigen zu tun, von da er um Ostern allhier wieder einzutreffen gedenkt. Es scheint, daß er sich bei der hiesigen jüdischen Gemeinde durch einige Vernachlässigung in der Observ^anz ihrer gesetzmäßigen Gebräuche nicht gänzlich zu seinem Vorteil gewiesen habe und da er ihrer nötig hat, so werden Sie ihm deswegen künftig die gehörige Vorschrift geben, in Ansehung welcher ich ihm schon zum voraus einige Erinnerungen, die die Klugheit gebeut, habe merken lassen." Sie sandten sich auch gegenseitig ihre neuesten Publikationen und erbaten sich zugleich eine daraus strenge, freimütige Be- urteilung derselben. So sandte z. B. Kant im genannten Jahr seine Schrift „Träumerei" an Mendelssohn, ihn zugleich be- auftragend, einige andere Exemplare an dem Verfasser befreun- dete Herren, wie den Hofprediger Sack, den Oberkonsistorialrat Spalding, die Professoren Lambert, Sulzer und Formey abgeben zu lassen. In den Briefen an seinen Korrespondenten unter- zeichnet sich Kant „mit wahrer Hochachtung dero ergebenster Diener" oder „mit der größesten Hochachtung dero ergebenster Diener" bezw. auch „meines höchstschätzbaren treuen Freundes ergebenster Diener". Moses Mendelssohn, der nie jemandem schmeichelte und seiner Überzeugung, wenn auch in angenehmen Formen, stets rückhaltlosen Ausdruck gab, nahm auch Kant gegenüber kein Blatt vor den Mund und so unterwarf er denn die schon genannte, ihm dedizierte Schrift „Träumerei" einer unumwun- denen Kritik. In der Antwort darauf, vom 8. April 1766, äußert sich Kant in folgenden, beiden Forschem zur Ehre gereichenden Worten : „Die Befremdung, die Sie mir über den Ton der kleinen Schrift äußern, ist mir ein Beweis der guten Meinung, die Sie sich von meinem Charakter der Aufrichtigkeit gemacht haben und selbst der Unwille, denselben hierin nur zweideutig ausge- drückt zu sehen, ist mir schätzbar und angenehm. In der Tat werden Sie auch niemals Ursache haben, diese Meinung von mir zu ändern, denn was es auch für Fehler geben mag, denen die standhaftigste Entschließung nicht allemal völlig ausweichen kann, — 109 — so ist doch die wetterwendische und auf den Schein angelegte Gemütsart dasjenige, worin ich sicherHch niemals geraten werde, nachdem ich schon den größten Teil meiner Lebenszeit hindurch gelernt habe, das meiste von demjenigen zu entfernen und zu verachten, was den Charakter zu korrumpieren pflegt und also der Verlust der Selbstbilligung, die aus dem Bewußtsein einer unverstellten Gesinnung entspringt, das größte Übel sein würde, was mir nur immer begegnen könnte, aber ganz gewiß niemals begegnen wird. Zwar denke ich vieles mit der allerklaresten Überzeugung und zu meiner großen Zufriedenheit, was ich nie- mals den Mut haben werde zu sagen, niemals aber werde ich etwas sagen, was ich nicht denk e". Je lebhafter die Korrespondenz zwischen beiden wurde, desto wärmer wurde auch der Ton, den man von beiden Seiten anschlug. Kant redet später in seinen Briefen Mendels- sohn stets mit den Worten „verehrungswürdiger Freund" an. Immer ist er bereit, den einen oder den anderen Wunsch seines Freundes und Kollegen nach Kräften zu erfüllen. Auch sendet er bald den einen, bald den anderen seiner Schüler, die nach Berlin übersiedeln wollten, mit Empfehlungsschreiben an Men- delssohn, die zuweilen in Ausdrücken großer Verehrung und wärmster Sympathie abgefaßt sind. Wenn junge Leute andererseits mit Empfehlungen von Mendelssohn versehen bei Kant vorsprachen, so waren sie stets einer außerordentlich freundlichen Aufnahme sicher, wie dies aus den eignen Briefen des Verfassers der „Kritik der reinen Vernunft" hervorgeht. Über manche Werke Mendelssohns äußert sich der sonst so kühl abwägende und nüchterne Immanuel Kant in aner- kennendster, ja zuweilen begeisterter Weise und zwar nicht allein dem Verfasser gegenüber, sondern auch in Briefen an dessen Freunde. Mendelssohns „Jerusalem" z. B. fand in ihm einen besonders warmen Verehrer. Das Urteil des Königsberger Philosophen über die Schrift des „modernen Sokrates" wird unsern Lesern um so willkommener sein, als hier Kant zugleich Stellung zu den Bewegungen im modernen deutschen Juden- tum nimmt. In dem soeben angeführten Briefe Kants heißt es nämlich über dieses Buch : — 110 — „Herr Friedländer wird Ihnen sagen, mit welcher Bewun- derung der Scharfsinnigkeit, Feinheit und Klugheit ich Ihr „Jerusalem" gelesen habe. Ich halte dieses Buch für die Ver- kündigung einer großen, obzwar langsam bevorstehenden und fortrückenden Reform, die nicht allein Ihre Nation, sondern auch andere treffen wird. Sie haben Ihre Religion mit einem solchen Grade von Gewissensfreiheit zu vereinigen gewußt, wie man ihr garnicht zugetraut hätte und dergleichen sich keine andere rühmen kann. Sie haben zugleich die Notwendigkeit einer unbeschränkten Gewissensfreiheit in jeder Religion so gründhch und so hell vorgetragen, daß auch endlich die Kirche unsererseits daran wird denken müssen, wie sie alles, was das Gewissen belästigen und drücken kann von der ihrigen absondern, welches endlich die Menschen in Ansehung der wesentlichen Religionspunkte ver- einigen müsse; denn alle das Gewissen belästigende Religions- sätze kommen uns von der Geschichte, wenn man den Glauben an deren Wert zur Bedingung der Seligkeit macht." Kant bewunderte „Jerusalem", wie der Philosoph Friedrich Jacobi berichtet, „wie ein unwiderlegbares Buch" *). So manche Freunde Mendelssohns waren auch die Freunde Kants, und unter diesen nimmt bekanntUch der von den beiden geliebte und verehrte Markus Herz den ersten Platz ein. Da der Verfasser des „Phädon", der „Morgenstunden" und von „Jerusalem" wußte, daß er mit Nachrichten über Herz dem Alten in Königsberg eine Freude bereite, unterließ er es nicht, seinen Briefen Mitteilungen über den Schüler Kants einfließen zu lassen. Besonders interessant in dieser Beziehung ist der Brief Mendelssohns vom 23. Dezember 1770, worin sich zu- gleich die ganze bewundernde Begeisterung desselben für das Genie Kants offenbart. Es heißt darin unter anderem : „Herr Marcus Herz, der sich durch Ihren Unterricht und, wie er mich selbst versichert, noch mehr durch Ihren weisen Umgang, zum Weltweisen gebildet hat, fährt rühmlich auf der Laufbahn fort, die er unter Ihren Augen zu betreten ange- fangen. So viel meine Freundschaft zu seinem guten Fort- *) Friedrich Jacobis Werke, Band IV, Seite 3 u. 142. — 111 — kommen beitragen kann, wird ihm sicherlich nicht entstehen. Ich liebe ihn aufrichtig, und habe das Vergnügen, fast tägUch seines sehr unterhaltenden Umgangs zu genießen. Es ist wahr, die Natur hat viel für ihn getan. Er besitzt einen hellen Ver- stand, ein weiches Herz, eine gemäßigte Einbildungskraft und eine gewisse Subtiligkeit des Geistes, die der Nation natür- lich zu sein scheint; allein welch ein Glück für ihn, daß eben diese Naturgaben so frühzeitig vom Wahren zum Guten und Schönen geführt worden sind. Wie mancher, der dieses Glück nicht gehabt, ist in dem unermeßlichen Raum von Wahrheit und Irrtum sich selbst überlassen geblieben, und hat seine edle Zeit und seine beste Kraft durch hundert vergebliche Versuche verzehren müssen, dergestalt, daß ihm am Ende beides, Zeit und Kraft, fehlt, auf dem Wege fortzufahren, den er nach langem Herumtappen endlich gefunden hat. Hätte ich von meinem zwanzigsten Jahre einen Kant zum Freunde gehabt!" Die letzten zwei Zeilen in diesem Briefe Mendelssohns be- weisen, daß dieser, als Kant mit seinen bedeutenden kritischen, die Philosophie von Grund aus umgestaltenden Werken auf- trat, bereits seinen philosophischen Standpunkt so gefestigt hatte, daß er, ein begeisterter Anhänger des Leibnitz-Wolffschen Systems, nicht mehr imstande war, zur neuen Lehre sich zu bekehren. Schon 1770, als der „Philosoph der Zukunft" mit seiner bereits oben genannten Schrift: „Über Form und Prin- zipien der sinnlichen und intelligibelen Welt" debütierte — wo- rin die Grundzüge des kritischen Systems in großen Zügen ent- halten sind — seine Stelle als ordentlicher Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg antrat, mußte Mendelssohn zu der Überzeugung gelangen, daß sein Freund in Königsberg ein „Allzermalmer" sei, der mit der dogmatischen Philosophie kurzen Prozeß machen wolle. Dieses erkennt man auch aus dem Briefe, den Mendelssohn am 23. Dezember 1770 an Kant richtete und worin bei aller Anerkennung der Geistesgaben des Verfassers dennoch bereits gegen manche Ausführungen desselben Stellung genommen wird. Aber immer entschuldigt sich Mendelssohn, daß er nur des- halb so unumwunden seine Einwendungen vorbringe, weil er — 112 — wisse, daß ein Geist wie Kant selbst die schärfsten Bedenken gegen seine philosophischen Ansichten mit Wohlwollen auf- nehme. Als die „Kritik der reinen Vernunft" erschien, war Mendels- sohn bereits zu alt und zu steif, um an einer solchen radikalen Umwälzung, an einem so freien philosophischen Gange noch Gefallen finden zu können. Bezeichnend ist in dieser Beziehung, was er in einem Briefe an seine Freundin Elise Reimarus vom 18. November 1783 äußert: „Die Philosophie, sagt Kant, „ist baulustig; wenn sie eine Zeitlang fortgebaut hat, so reißt sie wieder ein, um den Grund zu untersuchen." Gut, spreche ich, diese Lehrmeisterin soll mir willkommen sein, wenn ich die Baukunst studieren will; verlange ich aber Dach und Fach für mich und meine Familie, so danke ich der weisen Matrone für ihren baulustigen Vorwitz, sie mag ihn an Kartenhäusern oder Luftschlössern versuchen." Der alternde Mendelssohn wollte sich in dem Gebäude des philosophischen Dogmatismus von Leib- nitz, in dem er Ruhe fand und auf dessen Grund er seine Sittenlehre aufgeführt hatte, nicht mehr stören lassen und legte die „Kritik", die noch dazu in einem schweren und dunklen Stil geschrieben war, bald aus Händen, ohne sich die Mühe zu geben, ihren so tiefen Sinn zu ergründen. Daß Mendelssohn der „Kritik" seine „scharfsinnige Auf- merksamkeit" nicht schenken konnte oder mochte, bedauerte niemand mehr als Kant selbst. Bei dem Einfluß, welchen der berühmte Wortführer der Aufklärungsphilosophie auf seine Zeit- genossen übte, erhoffte der Königsberger Philosoph, daß der transzendentale Idealismus mehr Beachtung und schnellere Ver- breitung finden würde, wenn ein Mendelssohn dafür einträte. Er machte ihm daher nach dem Erscheinen der „Prolegomenen zu einer jeden künftigen Metaphysik" den Vorschlag, falls er sich nicht weiter mit schon zur Seite gelegten Sätzen selbst beschäftigen wollte, er wenigstens sein Ansehen und seinen Ein- fluß dazu verwenden möge, eine Prüfung der grundlegenden Sätze des Systems zu vermitteln, um beispielsweise zu unter- suchen, ob es mit der Unterscheidung der analytischen und syn- thetischen Urteile seine Richtigkeit habe, ob der Satz, daß alle spekulative Erkenntnis a priori nicht weiter reiche als auf Gegen- stände einer möglichen Erfahrung stichhaltig sei u. dgl. m. — 113 — „Zu diesen Untersuchungen/* schreibt Kant in seinem Briefe vom 18. August 1783*) wörtlich, „würde ich gern an meinem Teil alles mir mögliche beitragen, weil ich gewiß bin, daß wenn die Prüfung nur in gute Hände fällt, etwas Ausgemachtes daraus entspringen werde." Große Hoffnung machte er sich von der Erfüllung seines Wunsches allerdings nicht. „Mendels- sohn, Garve und Teters" sagt er — „scheinen dieser Art von Geschäften entsagt zu haben und wo ist noch sonst je- mand, der Talent und guten Willen hat, sich damit zu be- fassen? Ich muß mich also damit begnügen, daß dergleichen Arbeit, wie Swift sagt, eine Pflanze sei, die nur aufblüht, wenn der Stock in die Erde kommt." Mendelssohn wußte, daß er mit dem „Alles Zermalmen- den" in den Grundsätzen nicht übereinstimme. Die Schaumünze, welche er im November 1783 auf Kant entwarf: Ein Turm, der einzustürzen scheint und dennoch alle erstaunliche Festigkeit hat, die „Kritik der reinen Vernunft" mit der Umschrift: „Drohet, aber fällt nicht", ist bezeichnend für seine Auffassung des Kri- tizismus**). Immanuel Kant grollte jedoch seinem langjährigen Freunde deshalb in keiner Weise. Er ergriff vielmehr nach wie vor jeden Anlaß, um in Briefen an Markus Herz u. a, Mendels- sohn aufs freundschaftlichste grüßen und ihm die Versicherung seiner größten Ergebenheit melden zu lassen. Großen Respekt flößte ihm besonders auch der so klare, lichtvolle und volkstümliche Stil des Verfassers des „Phädon" ein, namentlich wenn er ihn mit dem seinigen vergHch. Je dunkler die Worte Kants waren, desto willkommener erschienen ihm die Ausführungen des allgemein verständlichen und geist- vollen philosophischen Schriftstellers. „Man soll zwar," meinte er, „so wenig allen Verfassern einen . Stil, wie allen Bäumen eine Rinde wünschen, aber dennoch scheint uns Mendelssohns Schreibart für die Philosophie die zuträglichste zu sein. So frei von aller Sucht nach blendendem Schmuck und doch so elegant; so scharfsinnig und doch so deutlich; so wenig auf Rührung *) Vergl. Immanuel Kants Briefe, Erklärungen, Fragmente aus seinem Nachlaß, herausgegeben von Friedrich Wilhelm Schubert. Leipzig 1842. Seite 15 ff. **) Moses Mendelssohns Gesammelte Schriften, Band V, S. 614 und M. Kayserling: Moses Mendelssohn, 2. Aufl., S. 483. Kohut, Gekrönte und ungekrönte Judenfreunde. 8 — 114 — dem Schein nach arbeitend und doch so eindringhch ! Wenn sich die- Muse der Philosophie eine Sprache er- kiesen wollte, so würde sie diese wählen/* Der Weise von Königsberg nannte seinen großen Antipoden ein „Genie, dem es zukäme, in der Metaphysik eine neue Bahn zu brechen, die Schnur ganz aufs neue anzulegen und den Plan zu dieser noch immer aufs bloße Geratewohl angebauten Disziplin mit Meisterhand zu zeichnen/* Groß war die Freude Kants, als er endlich im Sommer 1777 Mendelssohn in Königsberg persönlich kennen lernte, nachdem er so lange schon mit ihm in regem Briefwechsel gestanden hatte. Mendelssohn hatte nämlich im genannten Jahre eine Ge- schäftsreise nach Memel unternommen und auf der Fahrt da- hin verweilte er sowohl auf dem Hinweg als auf der Rück- reise mehrere Tage in Königsberg. Natürlich verfehlte er nicht, der Zierde dieser Stadt seine Aufwartung zu machen. Auch wohnte er sogar einigen Vorlesungen des Verfassers der „Kri- tik der reinen Vernunft" bei. Wie dieser den Besuch Mendels- sohns aufnahm, erkennt man aus dem Briefe, den er am 20. August 1777 an Marcus Herz schrieb. Er sagt darin: „Heute reist Ihr und, wie ich mir schmeichle, auch mein würdiger Freund Herr Mendelssohn von hier ab. Einen solchen Mann, von so sanfter Gemütsart, guter Laune und hellem Kopfe in Königsberg zum be- ständigen und innigen Umgange zu haben, würde diejenige Nahrung der Seele sein, deren ich hier so gänzlich entbehren muß und die ich mit der Zunahme der Jahre vornehmlich ver- misse; denn, was die des Körpers betrifft, so werden Sie mich deshalb schon kennen, daß ich daran nur zuletzt und ohne Sorge oder Bekümmernis denke und mit meinem An- teil an den Glücksgütern völlig zufrieden bin. Ich habe es indessen nicht so einzurichten gewußt, daß ich von dieser einzigen Gelegenheit, einen seltenen Mann zu genießen, recht hätte Gebrauch machen können, zum Teil aus Besorgnis, ihm etwa in seinem hiesigen Geschäfte hinderlich zu werden. Er tat mir vorgestern die Ehre, zween meiner Vorlesungen bei- zuwohnen, a la fortune du pot, wie man sagen könnte, indem der Tisch auf einen so ansehnlichen Gast nicht eingerichtet — 115 — war. Etwas tumultuarisch muß ihm der Vortrag diesmal vor- gekommen sein; indem die durch die Ferien abgebrochene Prälektion zum Teil summarisch wiederholt werden mußte und dieses auch den größten Teil der Stunden wegnahm; wobei Deutlichkeit und Ordnung des ersten Vortrags größten- teils vermißt wird. Ich bitte Sie, mir die Freundschaft dieses würdigen Mannes ferner zu erhalten.*' Und in einem Briefe Kants an Marcus Herz ein Jahr später schwärmt er noch immer von diesem lieben Besuch seines Ber- liner Gelehrten mit den Worten: „Grüßen Sie doch Herrn Mendelssohn von mir auf das Verbindlichste und bezeugen ihm meinen Wunsch, daß er in zunehmender Gesundheit seines von Natur fröhlichen Herzens und der Unterhaltungen genießen möge, welche ihm dessen Gutartigkeit zusamt seinem stets fruchtbaren Geiste verschaf- fen könne.** Wie gemütlich und vertraulich die Unterhaltungen der bei- den Philosophen gewesen sein mochten, erkennt man schon daraus, daß beide auch ihren Gesundheitszustand erörterten und daß Mendelssohn dem kränkelnden Kant allerlei Medika- mente anempfahl, von deren Wirkungen sich der Alte von Kö- nigsberg so viel versprach, daß er seinen Freund Marcus Herz bat, sie ihm in Form von Rezepten zu verschreiben. Ein anderer Schüler Kants, Christoph Jakob Kraus, welcher damals in Königsberg im Hause des Grafen Kayserling Hof- meister war und später eine ordentliche Professur der Mathe- matik und Philosophie an der ostpreußischen Universität erhielt, teilte seinem Freunde von Auerswald die Anwesenheit Mendels- sohns in Königsberg mit den Worten mit *) : „Donnerstag kam Mendelssohn an, Sonntag ließ mich Kant zu sich rufen und sagte mir, Mendelssohn sei bei ihm gewesen und habe mit ihm unter anderem auch von mir gesprochen, ob ich nämlich nicht an Maiers Stelle, der kürzlich gestorben, Professor in Halle werden wollte. Der Minister von Zedlitz habe ihm (Mendelssohn) aufgetragen, einen zu der Stelle vor- zuschlagen und er wolle es auf Kant ankommen lassen.** *) Voigt: Leben des Professors Kraus. Königsberg 1819. Seite 68. 8* — 116 — Die Anwesenheit Mendelssohns in Königsberg erregte da- mals das größte Aufsehen. Auch die Tagespresse beschäftigte sich mit derselben; so schrieb z. B. „die Königsbergische Zei- tung^* *) : „Gestern Nachmittag gegen 4 Uhr verließ Herr Mo- ses Mendelssohn seinen Aufenthalt in dieser Stadt und trat die Rückreise nach Berlin an. Wir hatten ihn lange vorher als einen tiefdenkenden Philosophen und geschmackvollen Kenner der Werke des Witzes verehrt; und bewundern nun in ihm, mehr als alle Gelehrsamkeit, die eitel, vergänglich und unnütz ist, ein gut und edel denkendes, der Freundschaft fähiges und für alle ihre sanften Empfindungen offen stehendes Herz. Er hat sich keiner Gesellschaft, die ihn zu kennen begierig war, aus zurückhaltendem Stolz entzogen, sich aber auch keiner einzigen zugedrängt. Auf besondere Veranlassung hat er einige der Größten unserer Stadt, unter anderem Ihre Exzellenzen Herrn Grafen von Kayserling und Herrn Kanzler von Korff, gesprochen und überall hat man ihn weit über alle Erwartungen gefunden. Doch waren brillante Gesellschaften und große Welt wohl nicht das, was ihm am meisten gefiel und er vergnügte sich weit mehr in einer ganz kleinen Gesellschaft auserwählter Freunde denn an der übertriebensten Bewunderung der feinen, großen und artigen Welt." Der Tod Moses Mendelssohns erschütterte Immanuel Kant aufs tiefste und er, der den öffentlichen Aufführungen von geist- licher Musik oder von Konzerten sonst fast nie beiwohnte, er- schien diesmal niedergebeugt bei der Trauerfeier, mit welcher die Juden Königsbergs den Tod des großen und verdienten Berliner Denkers pietätvoll ehrten. Wir haben übrigens noch andere interessante Mitteilungen über das Verhalten Kants anläßlich des Todes Moses Mendels- sohns. Der „Magus des Nordens'*, Hamann, ein Feind des Verfassers des „Phädon**, kann nicht umhin, zehn Tage nach dem Tode Mendelssohns, am 15. Januar 1786, an Friedrich Jakobi **) zu schreiben, daß Kant bei der Nachricht von dem Ableben seines Berliner Freundes sich dahin geäußert habe: *) Vom 21. August 1777, 67 Stück, Seite 267. Vergl. auch H. Jolowicz: Geschichte der Juden in Königsberg (Posen 1867), Seite 97. ••) Friedrich Jakobis Werke. Band IV. Abteilung 3, Seite 142. — 117 — „Die Christen hätten nichts, desto mehr seine eigene Nation verloren, um die er sich auch in Handlungsgeschäften und öffentlichen Angelegenheiten sehr verdient gemacht haben soll durch sein gesundes, praktisches Urteil. Von seiner Schreib- art ist Kant ganz eingenommen, bewunderte einst seinen „Je- rusalem" wie ein unwiderlegliches Buch, ist noch willens, mit der Zeit über die „Morgenstunden" etwas herauszugeben, eilt aber jetzt mit der Ausgabe seiner eigenen Werke." Widmen wir nun noch ein kurzes Wort dem Verhältnis Immanuel Kants und seiner Lehre zu Israel. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß der Ver- fasser der Kritik der reinen Vernunft der Lehrer und Erzieher der deutschen Juden war, als es für diese galt, sich aus dem geistigen Ghetto zu erheben und sich zu einer freieren und licht- volleren Lebens- und Weltanschauung aufzuschwingen. Ver- kündete er doch jene Grundsätze und Ideale, die dem Juden von jeher vorschwebten und ihn in seinem Denken und Han- deln beeinflußten, nämlich die Pflichterfüllung als den katego- rischen Imperativ der Moral und Ethik und die Vernunft als die Richtschnur für jeden Einzelnen. Im biblisch-talmudischem Sinne lehrte er, daß die Tugend der Menschen sich nicht auf Furcht vor Strafe oder Hoffnung auf Belohnung, sondern auf den Gedanken gründen müsse, daß er dadurch in den Augen des Allwissenden der Glückseligkeit würdig werde; daß diese Glückseligkeit nur durch eine ewige Fortdauer des Menschen erreicht werde, und endlich, daß selbst das Gefühl des Erhabenen nur dann uns mit Wohlgefallen erfüllen könne, wenn der Ge- danke an Gott und Unsterblichkeit dieses Gefühl belebe. Wie nun Kant die namhaftesten jüdischen Denker seiner Zeit und das Judentum überhaupt aufs mächtigste beeinflußt hat, so hat auch das Judentum einigermaßen auf ihn eingewirkt. Daß dieser originelle Denker, dieser radikale Umstürzler, der seine eigenen Wege ging, selbstverständlich nicht im Banne einer einzigen religiösen Lebens- und Weltanschauung stehen konnte, liegt auf der Hand, aber ebenso steht es fest, daß auch er von der geistigen Strömung der israelitischen Moralphilosophie vielfach berührt wurde. In manchen seiner religionsphilosophi- schen Lehren zeigen sich z. B. Anklänge an Moses Maimo- — 118 — n i d e s , den größten Denker des Judentums im Mittelalter, be- sonders dann, wenn er die religionsphilosophischen Grundbe- griffe zergliedert. Desgleichen steht die Kantische Lehre von der Auffassung Gottes nach der Analogie der Auffassung des Maimonides sehr nahe. Ebenso findet sich bei beiden Philosophen die Tendenz, den eigentlichen Schwerpunkt des Gottesgedankens in die Ethik zu verlegen. Arthur Schopenhauer. Der am 21. September 1860 verstorbene einsame Denker von Frankfurt a. M., der griesgrämige, verbitterte und gallige Arthur Schopenhauer, war bekanntlich der hervor- ragendste und entschiedenste Vertreter des Pessimismus in der Philosophie. Diese Welt erschien ihm als die schlechteste unter allen möglichen Welten und wert, daß sie zugrunde geht. Daher war er denn auch theoretisch ein Feind des Judentums, (1. h. der Lehre, die den Optimismus predigt. Wir besitzen von ihm verschiedene briefliche und mündhche Äußerungen, worin er dieser seiner Abneigung gegen Israel Ausdruck gibt. Er räsonniert mächtig über „das auserwählte Volk Gottes". Selbst einem Heinrich Heine, dessen Genie er sonst sehr hoch hält, kann er es nicht vergeben, daß er dem Schöße des Juden- tums entsprungen war. Trotz alledem hatte Arthur Schopenhauer viele treue, be- geisterte und für ihn schwärmende jüdische Freunde, wie er denn selbst ihnen mit aller Freundschaft und Sympathie, deren er nur fähig war, anhing. Es ist im hohen Grade bezeichnend, daß der Philosoph des Pessimismus, den das deutsche Volk Jahrzehnte hindurch igno- rierte, in erster Linie seinen jüdischen Freunden, d. h. jüdischen Denkern und Schriftstellern, es zu verdanken hatte, wenn der Bann endlich gebrochen und in den weitesten Kreisen des deutschen Volkes und des Auslandes der große und originelle Denker in seinem vollen Wert und seiner vollen Bedeutung nach allgemein anerkannt wurde. Schon der intimste Studien- und Jugendfreund Arthur Schopenhauers, den er zärtlich wie einen Bruder liebte und für den er die größten Opfer zu bringen bereit war, war ein Jude. Er hieß Joseph Gans. Nicht nur gemeinsame philo- — 120 — sophische Anschauungen, sondern auch gegenseitige Wert- schätzung und aufrichtige Sympathie vereinigten die beiden jungen Seelen. Joseph Gans, ein armer Student, der mühsam um seine Existenz ringen mußte, erweckte überdies das Mitleid des wohl- habenden Patriziersohnes und dieser unterstützte ihn nach Maß- gabe seiner Kräfte aufs wirksamste. Als Arthur Schopenhauer 1814 nach bestandenem Doktorexamen zu seiner Mutter, der bekannten Romanschriftstellerin und Kunsthistorikerin Johanna Schopenhauer, nach Weimar reiste, nahm er auf seine Kosten seinen Freund Joseph Gans mit. Auf seinen Wunsch wurde Gans im Hause seiner verwitweten Mutter aufgenommen und sollte dort von Januar bis Mitte April des genannten Jahres freie Station erhalten. Der junge Doktor sorgte nicht nur für die Kosten des Unterhalts seines Freundes, der mit ihm zusammen- wohnte und mit ihm an der Mutter Tisch aß, sondern er ver- sah ihn auch mit Kleidern, Büchern und Taschengeld. Mit seiner Mutter, mit der er überhaupt nicht gut stand und die seinen Genius nicht erkannte, hatte er wegen seines Freun- des wiederholt scharfe Auseinandersetzungen. Die große Wirt- schaft wurde ihr beschwerlich. Durch die beständige Gegen- wart des jungen Gans fühlte sie sich in ihrer Freiheit beschränkt. Sie kündigte deshalb im April 1814 ihrem Sohne und Joseph Gans die Pension, bei der sie überdies angeblich ihre Rechnung nicht gefunden hatte. Schopenhauer hielt sich dadurch beson- ders aus dem Grunde gekränkt, weil seine Mutter so wenig Rücksicht auf seinen Freund nahm, und seitdem kam es zwi- schen ihm und Johanna Schopenhauer zu einem Bruch fürs ganze Leben. Bezeichnend für die Lieblosigkeit der Mutter Arthur Schopenhauers einerseits, wie für die freundschaftliche Empfindung des letzteren für Joseph Gans andererseits ist das Kündigungs- schreiben der Johanna Schopenhauer an den Sohn, woraus hier nur die nachstehende Stelle mitgeteilt werden soll: „Wie froh wäre ich, wenn ich Dich und Deinen Freund als meine Gäste betrachten könnte, ohne Entschädigung! Ich sehe indes, es ist Dir ganz im Ernst, daß ich keinen Schaden durch Euch leiden soll und ich will auch nicht eigensinnig oder albern generös er- scheinen. Willst Du mir also für Gans so viel geben als für Dich, da er nicht weniger braucht, so denke ich jetzt, da manche — 121 — Ausgabe wegfällt oder geringer wird, auszukommen, genau läßt dergleichen nie berechnen. . . ." Zu den langjährigen treuen Freunden Arthur Schopenhauers zählte ferner der jüdische Rechtsanwalt Dr. Martin Emden in Frankfurt a. M., der mit seltener Umsicht, Selbstlosigkeit und Ge- schick die Vermögensverwaltung des Philosophen besorgte und die oft sehr verwickelten und ungünstigen Prozesse desselben führte. In den Briefen, die Schopenhauer an seine Freunde, so z. B. an den Kreisrichter Johann August Becker, den Be- zirksrichter Adam Ludwig von Doß, die Schriftsteller Dr. Julius Frauenstaedt, Dr. David Asher u. a., richtete, wird er nicht müde, die Tüchtigkeit, die Begabung und den lauteren Charakter Dr. Emdens, der sich seiner Angelegenheiten mit solchem Er- folge annehme, zu rühmen. Er beschenkte ihn denn auch, als Beweis seines Dankes, einmal mit einem Kupferstich „Die Prozeßentscheidung", den er ihm in Glas und Rahmen verehrte. Dr. Martin Emden gehörte auch zu den philosophischen Verehrern Arthur Schopenhauers und beide unterhielten sich nicht nur über juristische, sondern auch über philosophische Fragen. In vielen Briefen beruft sich Schopenhauer mit Ge- nugtuung auf den Umstand, daß auch Dr. Emden, den Schopen- hauer seinen „einzigen speziellen Freund" nannte, in dieser oder jener Frage mit ihm einverstanden sei. In seinem Testament vom 26. Juni 1852 ernannte Schopen- hauer Emden zum Testamentvollstrecker, auch vermachte er ihm neben einem Teil seines Mobiliars seine Bibliothek, Instrumente, Bilder, Manuskripte usw. Groß war daher sein Schmerz, als Emden im Jahre 1858 starb. Tief bewegt schrieb er an Ernst Otto Lindner (Frankfurt, 3. November 1858). „Ach, heute ist mein bester, vieljähriger Freund Dr. Emden gestorben! Ich bin in tiefer Trauer über diesen mir unersetzlichen Verlust. Das gehört zu den Leiden des Alters, man verliert seine Freunde. Ich muß mich mit dem Nachwuchs der jüngeren Freunde trösten, zu denen ich Sie ganz besonders rechne". Nun noch ein Wort über die jüdischen Verehrer des Frank- furter Philosophen, Dr. Julius Frauenstaedt und Dr. David Asher, die Jahrzehnte hindurch in zahlreichen Ar- tikeln und Werken den Ruhm und die Bedeutung ihres Meisters verkündeten. — 122 — Julius Frauenstaedt zählte zu den intimsten Freunden des Philosophen, wie dies schon der reichhaltige Briefwechsel be- weist, der zwischen beiden gepflogen wurde. Das Freund- schaftsverhältnis war ein echtes und fruchtbringendes, wie solche jetzt kaum noch existieren. Frauenstaedt zählte zu den Anhängern Arthur Schopenhauers par excellence. Seine ganze literarische und wissenschaftliche Tätigkeit war darauf gerichtet, die Ideen des Meisters volkstümlich zu machen, diese dem Ver- ständnis der weitesten Kreise näher zu bringen und die vielen Vorurteile und Irrtümer, die über den Denker und seine Lehre im Schwange waren, zu zerstreuen. Überdies hatte er sich noch die schöne Aufgabe gestellt, auch den Menschen Schopenhauer von den zahlreichen Verleumdungen seiner Person zu reinigen und den Beweis zu führen, daß der als rücksichtslos und selbst- süchtig verschrieene Vater des deutschen Pessimismus viel besser als sein Ruf gewesen sei. Frauenstaedt war der Erste, der bereits im Jahre 1840 eine sehr anerkennende umfassende Abhandlung über Schopenhauer und seine Philosophie verfaßte, die er in den „Halleschen Jahrbüchern'* veröffentlichte und somit das tückische Schweigen über ihn brach. Die persönliche Bekanntschaft Schopenhauers machte Frauen- staedt im Juli 1846. Er fühlte sich getrieben, dem von ihm so sehr verehrten Denker den Zoll seiner Bewunderung zu ent- richten. Seit jenem ersten Besuch in Frankfurt a. M. blieb Frauenstaedt mit ihm im lebhaften persönlichen und noch mehr im schriftlichen Verkehr und war bis zum letzten Atemzuge des Philosophen eifrigster Jünger. Zu jener Zeit war Schopenhauer, obschon sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung" bereits in 2. Auflage vorlag, noch gar nicht ins Publikum gedrungen, und seine Er- bitterung über die gegen ihn geübte Taktik des Ignorierens und „Sekretierens" machte sich daher seinem neuen Freunde gegen- über Luft. Scherzhaft nannte er Julius Frauenstaedt seine „Po- saune". Volle 5 Monate verkehrte der Jünger mit seinem Meister fast täglich, als er als Erzieher der beiden Prinzen zu Hohen- lohe-Schillingsfürst von Anfang April 1847 bis Ende August in Frankfurt a. M. weilte. Frauenstaedt rechnete jene Zeit, die er in der Nähe seines Lehrers zubringen durfte, zu der schönsten und inhaltvollsten seines Lebens. Er wurde mit Schopenhauer — 123 — intim befreundet und diese Freundschaft setzte sich später in den Briefen des Philosophen an ihn so fort, daß man wohl behaup- ten darf, keiner seiner Anhänger hat Schopenhauer so nahe ken- nen gelernt, und keiner so tiefe Blicke in das Wesen seines Geistes und Charakters getan, als er. Diesem seinen Famulus gegenüber sprach sich der Faust der Philosophie über alles und jedes in freimütigster Weise aus; und wie einst Eckermann die mit ihm geführten Gespräche Goethes mit photographischer Treue aufnotierte, so auch Frauenstaedt die Äußerungen seines Meisters. Dabei muß man allerdings auch einräumen, daß der Kultus, den zuweilen der Zauberlehrling mit dem Hexenmeister treibt, schon an Vergötterung streift und daß daher die Über- treibungen einen widerwärtigen Eindruck machen. In den zahlreichen Zuschriften Arthur Schopenhauers an seinen um 25 Jahre jüngeren Interpreten und Freund nennt er ihn bald „Unser lieber Getreuer'', „Mein lieber, alter Apo- stel'*, „Mein alter Treufreund", „Hochwürdiger Erzevangelist" oder mit ähnlichen Namen. Wenn Frauenstaedt nicht sofort antwortet, ist er gleich besorgt, und sein Schweigen beunruhigt ihn. So schreibt er ihm einmal aus Frankfurt a. M., den 17. September 1856: „Hoffentlich sind Sie nicht krank, oder etwa von der Reisesucht, die so allgemein grassiert, ergriffen und werden wohl gar nächstens hereintreten, wo nicht, so lassen Sie von sich hören." Und in einem andern Briefe heißt es zum Schluß: „Schreibe, damit Dir geschrieben werde, sagt die Bibel, und somit wünsche ich Ihnen klare Augen und klaren Geist und verharre der Alte, Arthur Schopenhauer." Der ohnehin nichts weniger als artige und manierliche Brumm- bär schimpft geradezu mörderisch in seinen Briefen, so daß sich eine Wiedergabe der betreffenden Kraftstellen noch jetzt verbietet. In seinem Testament vermachte Arthur Schopenhauer seinem geliebten Julius Frauenstaedt alle seine wissenschaft- liche Manuskripte, die mit Papier durchschossenen Exemplare seiner Werke, die Werke Kants aus seiner Bibliothek, Kants Büste und seine Busennadel mit Smaragd, sowie das Verlags- recht zu allen ferneren Auflagen seiner Schriften — schon diese testamentarischen Bestimmungen beweisen, welchen Wert der Denker von Frankfurt auf die Freundschaft seines getreuesten Jüngers legte. — 124 — Ein nicht minder begeisterter und alle Zeit für Schopen- hauers Genius und dessen Schöpfungen mit Entschiedenheit eintretender Herold war der Schriftsteller Dr. David Asher in Leipzig. Auch er besuchte den Einsiedler in Frankfurt a. M. und veröffentlichte über ihn in verschiedenen Zeitschriften sehr anerkennende und ihn rühmende Aufsätze, mit Verständnis und Sachkenntnis auf das Wesen der Schopenhauerschen Philoso- phie hinweisend. Besonders freute sich Schopenhauer über eine Schrift David Ashers, betitelt: „Offenes Sendschreiben an den hochgelehrten Herrn Dr. Schopenhauer von Dr. D. Asher" — Leipzig Dyk 1855 — , weil darin einerseits die mächtige Sympa- thie, die der Verfasser für den Denker hegte und andererseits dessen Verständnis für seine Philosophie zutage trat. Asher unterließ es auch nicht, in Gedichten, speziell zu den Geburts- tagen Schopenhauers, diesen zu preisen und zu verherrlichen. Für derartige schwungvolle Anerkennungen und Lobeserhe- bungen war b^reiflicherweise der alte grollende Löwe, den man so lange ignoriert hatte, sehr empfänglich. Auch mit Asher stand Schopenhauer in einer fleißigen Korrespondenz. Er machte ihm das Kompliment, daß, so viele auch schon über seine Philosophie geschrieben haben, noch keiner das eigentliche Grundverdienst derselben so deutlich und bestimmt wie er hervorgehoben habe. David Asher widmete Arthur Schopenhauer seine Schrift: „Arthur Schopenhauer als Interpret des Goetheschen Faust. Ein Erläuterungsversuch des 1. Teils dieser Tragödie." Leipzig, Arnoldische Buchhandlung 1859, was dem so Ausgezeichneten große Freude bereitete. Dieser schrieb ihm darüber — Frank- furt a. M., 9. März 1859 — u. a. : „Daß ich große Freude darüber habe, versteht sich von selbst, da es in majorem mei gloriam ist und die Beachtung meiner Philosophie fördert. Wel- chen Wert es aber für das Publikum haben wird, ist eine andere Frage und ob dasselbe nun den Faust richtiger auffassen wird." Dr. David Asher war zugleich ein bedeutender Orientalist, der ab und zu Schopenhauer von „hebräischen Funden" einiges mitteilte, was den Philosophen sehr interessierte. Speziell hat- ten die Artikel über Ibn Gabirol für den Denker hohen Reiz, wobei dieser nur bedauerte, daß er des Hebräischen nicht mäch- tig sei. Doch kannte er Salomon Ibn Gabirols Hauptwerk „Föns J — 125 — vitae" durch die französische Übersetzung, welche Salomon Munk in den „Melanges de Philosophie Juive et Arabe** (Paris, Frank 1857) davon gegeben hatte; dieser aber hatte den Oa- birol nicht aus der arabischen Ursprache übersetzt, sondern nach der hebräischen Übersetzung des Sehern - Tob - Ibn - Falaquera wiedergegeben. Alexander von Humboldt. Es gibt Genien in der Geschichte der Menschheit und der National- und WeltHteratur, die nicht für ihr Volk und ihr Zeit- alter allein, sondern die für alle Nationen, Geschlechter und Jahr- hunderte gelebt haben, d. h. deren Wirken und Schaffen nicht bloß einem beschränkten Kreise, sondern dem ganzen „Kosmos'* zugute gekommen sind. Zu diesen umfassenden, bahnbrechenden und unendlich viel Gutes und unaussprechlich viel Segen gestifteten, gewaltigen Gei- stern, auf die Deutschland mit Fug und Recht stolz sein kann, gehört auch der Naturforscher, Polyhistor und Humanitäts- prophet Alexander von Humboldt, der am 6. Mai 1895 starb. Was Humboldt auf den Gebieten der exakten Wissenschaft mannigfachster Art, der Volksbildung und Aufklärung, der Po- pularisierung der menschlichen Erkenntnisse, der Forschungen, der Entdeckungen und Erfindungen geleistet hat, soll hier nicht weiter untersucht werden. Die grundlegenden Ergebnisse seiner Untersuchungen, Beobachtungen und Erfahrungen sind längst zum Gemeingut des deutschen Volkes und aller gebildeten Na- tionen der Welt geworden. Sie sind mit goldenen Lettern auf den Tafeln der Wissenschaft und Kultur eingezeichnet, mit Flam- menzügen den Namen Humboldt verherrlichend. Weniger be- kannt ist jedoch der Anteil, den der berühmte Universalgelehrte an den Fortschritten der reinen und edlen Menschlichkeit, der politischen, der Gewissens- und Glaubensfreiheit, kurz der Ethik genommen hat. Es wird Alexander von Humboldt zum ewigen Ruhme ge- reichen, daß er trotz seines immensen Wissens und seiner viel- seitigen, geradezu verblüffenden Gelehrsamkeit es verschmähte, nur für einen engen Kreis seiner Fachgenossen tätig zu sein und — 127 — sich auf die Theorie allein zu beschränken. In ihm lebte der heiße Drang nach Betätigung, d. h. er war alle Zeit bemüht, die idealen und welterlösenden Ideen seiner Seele zu Nutz und Frommen der Menschheit in Taten umzusetzen und so Wissen- schaft und Leben miteinander zu verknüpfen, Theorie und Praxis harmonisch miteinander verbindend. So wurde er denn ein Eroberer mit den friedlichen Waffen der souveränen Wissen- schaft, der da heldenmütig kämpfte für Recht und Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, kurz für das echte und wahre, an keine Schranken gebundene Menschentum. Diese Geistes- richtung des edlen deutschen Mannes, des Schöpfers des „Kos- mos", hing mit seiner allgemeinen Weltanschauung zusammen, über die folgende herrliche Worte klaren Aufschluß geben : „Indem wir die Einheit des Menschengeschlechtes behaupten, widerstreben wir auch jeder unerfreulichen Annahme von hö- heren und niederen Menschenrassen. Es gibt bildsamere, höher gebildete, durch geistige Kultur veredelte, aber keine edleren Volksstämme. Alle sind gleich- mäßig zur Freiheit bestimmt, welche in unseren Zuständen dem Einzelnen, in dem Staatenleben bei dem Genuß politischer In- stitutionen der Gesamtheit als Berechtigung zukommt." Ebenso über Fortgang und Ziel als menschliche Entwicke- lung: „Es liegt nicht in der Bestimmung des menschlichen Ge- schlechts eine Verfinsterung zu erleben, die -gleichmäßig das ganze Geschlecht ergriffe; ein erhaltendes Prinzip nährt den ewigen Lebensprozeß der fortschreitenden Vernunft." Bekanntlich traten die politischen, ethischen und humani- tären Ansichten Humboldts nicht allein in seinen Werken, son- dern auch in seinen zahlreichen Briefen an seine Freunde Varn- hagen v. Ense, Josias v. Bunsen und andere mit größter Schärfe und Deutlichkeit zutage. Mag aus der Fülle dieser seiner Anschau- ungen hier nur einiges zur Kennzeichnung des wahrhaft frei- sinnigen und keine Vorurteile kennenden Mannes abgedruckt werden : „Ich sterbe mit dem Gewissensglauben, bis an meinem Tod keinen der mir Gleichgesinnten verlassen zu haben." (Aus einem Briefe an Varnhagen v. Ense, 15. Jan. 1845.) — 128 — „Sich fürchten vor jeder begeisterten Kraft heißt dem Staatenleben die nährende, erhahende Kraft nehmen. Alles Wir- ken und Handeln wird gehemmt, wenn durch Verdächtigung man sich der besten Kräfte beraubt.** (Aus einem Briefe an den König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, 29. März 1846.) „Meine Meinung ist von jeher gewesen, daß die wildeste Republik dem geistigen Fortschritt der Menschheit und dem Bewußtsein ihrer Ehrenrechte nicht soviel und go langdauemd schaden kann als le regime de mon oncle, le despotisme eclaire, dogmatique, milleux, der, welcher alle Künste der Zivilisation anwendet, um den Willen und die Laune eines Einzigen herr- schen zu lassen.** (An Vamhagen v. Ense 5. Februar 1852.) „In welchem Zustande verlasse ich die Welt, der ich 1789 erlebte und mitfühlte! — aber Jahrhunderte sind Sekunden in dem großen Entwicklungsprozeß der fortschreitenden Mensch- heit. Die ansteigende Kur\^e hat aber keine Einbiegungen, und es ist gar unbequem, sich in solchem Teil des Niedergangs zu befinden.*' (An denselben 13. März 1853.) „In den Vereinigten Staaten ist die Freiheit nur ein Mecha- nismus in dem Elemente der Nützlichkeit, wenig veredelnd und das Geistige und Gemütliche anregend, was doch der Zweck der politischen Freiheit sein sollte.** (An denselben 31. Juli 1854.) „Kein physisches, kein scheinbares Gelingen kann das Un- wahre wahr, das Unrechte recht machen, man zwingt die Flüsse nicht, sich gegen das Gesetz der Schwere zu bewegen.'* (Aus einem Briefe an Bunsen, 28. Dezember 1851.) „Möge der byzantinische Despotismus des Elisee bald wie- der bezeugen, daß das, was die Weltgeschichte aller Jahrhun- derte gelehrt, das Einschreiten der Nemesis, der Triumph des Rechts und der Wahrheit, nicht ausbleibt.** (An denselben 27, März 1852.) Schließlich noch nachstehende Anführungen aus dem „Kos- mos** und den „Ansichten der Natur**, die das Bild des theo- retischen Humanitätsapostels zu ergänzen geeignet sind: „Wo unter dem Schutze weiser Gesetze und freier Insti- tutionen alle Blüten der Kultur sich kräftig entfalten, da wird im friedlichen Wettkampf kein Bestreben des Geistes dem andern verderblich.** — 129 — „Vollkommenes Gedeihen und Freiheit sind unzertrennliche Ideen auch in der Natur/' „Eine großartige philosophische Weltanschauung bedarf nicht bloß der reichen Fülle der Beobachtungen als Substrats der Verallgemeinerung der Ideen, sie bedarf auch der vorbereitenden Kräftigung der Gemüter, um in dem ewigen Kampf zwischen Wissen und Glauben nicht vor den drohenden Gestalten zurück- zuschrecken, die bis in die neuere Zeit an den Eingängen zu gewissen Regionen der Erfahrungswissenschaft auftreten und diese Eingänge zu versperren trachten/* Solch' herrliche Humanitätsgrundsätze verkündete und be- stätigte Alexander von Humboldt; mit solch' großartiger Welt- und Menschenanschauung ausgerüstet, betrat er die Geistesarena, um für Recht, Wahrheit und Freiheit zu kämpfen. Mit flam- mender Begeisterung mahnte er seine Zeitgenossen, daß sie sich über den lästigen Kampf zwischen Wissen und Glauben, der früher schon und gegen den uranfänglichen Geist ins historische Christentum hineingelegt wurde, da es eben Staatsreligion ge- worden, zu einer Zeit, als das römische Reich tief erschüttert und dieselbe neue Lehre durch den dogmatischen Zwist der Parteien in ihren wohltätigen Wirkungen gestört gewesen, er- heben sollen. Doch lehrte der Humanitätsprophet nicht nur theoretisch das Große, Schöne und Edle, gleichsam das Gött- liche im Menschen, sondern er war auch eifrig bestrebt, diese Gedanken zu verwirklichen und die finsteren Anschläge der dro- henden dämonischen Mächte zu vereiteln. In besonders kräftiger und erfolgreicher Weise betätigte sich Humboldt im Geist der Menschlichkeit und des Fortschritts dem deutschen Judentum gegenüber, um endlich eine Judeneman- zipation im wahren und edlen Sinne des Wortes herbeizuführen, staatsbürgerliche Gleichstellung für alle Konfessionen zu er- ringen und einzelnen ihres Glaubens wegen zurückgesetzten Per- sönlichkeiten den ihnen zukommenden Platz im Staate, in der Wissenschaft und in der Gesellschaft einräumen zu helfen. Zuvörderst ging sein Bestreben dahin, die preußische Ver- fassung zur Verbesserung der Lage der Juden einer gründlichen Revision unterziehen zu helfen. Friedrich Wilhelm IV. befaßte sich unmittelbar nach seiner Thronbesteigung mit der sogenannten Ju- denfrage und fand in seinem Kultusminister Eichhorn das ge- Kohut, Gekrönte und ungekrönte Judenfreunde. Q — 130 — eignetste Werkzeug zur Unterdrückung aller den Juden zukom- menden und verbrieften Rechte. Volle 6 Jahre hindurch bemühte sich Eichhorn, das unheilvolle Gesetz für die Juden im Herzogtum Posen, das im Jahre 1833 erschienen war, alle Juden der preu- ßischen Monarchie aufzuoktroyieren. Welchen ungeheuren Druck dieses Gesetz auf die Juden Posens ausübte, können vv^ir aus der merkwürdigen Tatsache ersehen, daß selbst die königUchen Re- gierungen zu Posen und Bromberg, erstere am 21. August 1842, letztere am 25. Juli 1843, also nach lOjähriger Erfahrung, dem Ministerium erklärten, daß „das in Rede stehende Gesetz sehr nachteilig auf die Juden gewirkt habe, und daß die Aufhebung desselben zu wünschen sei." Als nun im Jahre 1842 die ersten Vorberatungen des Kul- tusministeriums mit nur drei Männern jüdischen Glaubensbe- kenntnisses begannen, ging ein Schrei der Entrüstung durch die freisinnige europäische Presse. Wie begründet diese Befürchtungen waren, können wir als- bald ersehen, wenn wir einige §§ dieser Gesetze, die später die Grundlage der preußischen Judengesetzes vom 23. Juli 1847 ausmachten, hier anführen. Während das Edikt vom 11. März 1812, § 8 und 9 lautet: „Sie (die Juden), können daher aka- demische Lehr- und Schul- und auch Gemeindeämter, zu wel- chen sie sich geschickt gemacht haben, verwalten. Inwiefern die Juden zu andern öffentlichen Staatsämtern zugelassen wer- den können, behalten Wir uns vor, in Folge der Zeit gesetzlich zu bestimmen," schrieb das neue Gesetz im § 2 vor: „Zu einem unmittelbaren oder mittelbaren Staatsamte sowie zu einem Kom- munalamte kann ein Jude nur dann zugelassen werden, wenn mit einem solchen Amte die Ausübung einer richterUchen, poli- zeilichen oder exekutiven Gewalt nicht verbunden ist. Außer- dem bleiben die Juden allgemein von der Leitung und Beauf- sichtigung christlicher Kultus- und Unterrichtsangelegenheiten ausgeschlossen. An den Universitäten können Juden, soweit die Statuten nicht entgegenstehen, als Privatdozenten, außerordent- liche und ordentliche Professoren der medizinischen und sprach- wissenschaftlichen Lehrfächer zugelassen werden. Von allen übrigen Lehrfächern an Universitäten, sowie von dem akade- mischen Senat und den Ämtern eines Dekans, Prorektors und — 131 — Rektors bleiben sie ausgeschlossen. An Kunst- und Gewerbe-, Handels- und Navigationsschulen können Juden als Lehrer zu- gelassen werden. Außerdem bleibt die Stellung der Juden als Lehrer auf jüdische Unterrichtsanstalten beschränkt." § 71. „Zur Niederlassung ausländischer Juden bedarf es vor Erteilung der Naturalisationsurkunde der Genehmigung des Mi- nisters des Inneren." (Während bei Christen Letzteres nicht nötig war, sondern die Naturalisation von der Provinzialregie- rung erfolgte.) „Ausländische Juden dürfen ohne eine Geneh- migung weder als Rabbiner und Synagogendiener, noch als Ge- werksgehilfen, Gesellen, Lehrlinge oder Dienstboten angenom- men werden. Die Überschreitung dieses Verbotes zieht gegen die Inländer und die fremden Juden, gegen letztere sofern sie sich bereits länger als 6 Wochen in den diesseitigen Staaten aufgehalten haben, eme fiskalische Geldstrafe von 20 — 300 Thalern oder verhältnismäßige Gefängnisstrafe nach sich. Fremden Ju- den ist der Eintritt in das Land zur Durchreise oder zum Be- trieb erlaubter Handelsgeschäfte nach näherem Inhalt der dar- über bestehenden oder künftig zu erlassenden politischen Vor- schriften gestattet. In Betreff der Handwerksgesellen bewendet es jedoch bei den Bestimmungen der Ordre vom 14, Oktober 1838 und der mit auswärtigen Staaten besonders geschlossenen Verträge." Wie wir schon aus den hier angeführten Beispielen ersehen, wurden durch dieses Judengesetz die Art. 4 und 12 der preu- ßischen Verfassung, wonach „alle Preußen vor dem Gesetze gleich sind", und „der Genuß der bürgerlichen Rechte von dem religiösen Bekenntnis unabhängig ist," tatsächlich aufgehoben. Die freisinnige Presse, soweit sie in jener Reaktions-Periode zum Ausdrucke kommen konnte, gab ihrer Entrüstung über das beabsichtigte Attentat auf die Verfassung in schärfster Weise Ausdruck. Das tat z. B. die „Königsberger Hartung'sche Zei- tung" in einem Aufsatz vom 23. März 1842. Sie führte darin u. a. aus, daß sich hier derselbe Geist zeige, der die Phantome einer Adels-Reunion, der Erneuerung von Zünften und Innungen und mancher anderen Dinge aus einer längst vergrabenen Zeit uns vorführe. Der Staat wolle augenscheinlich das Judentum in seiner früheren häßlichen Gestalt herstellen und es auf die 9' — 132 — Satzungen des Talmuds und in die düsteren Engen schmutziger Ghettis verweisen. Das Band, das die verschiedenen Konfes- sionen schon so lange zusammen halte, solle gelockert und die immer mehr wachsende Bruderliebe in Haß und Feindschaft verwandelt werden. Sei das christlich? Sei das Liebe, wenn wir den von uns stoßen, der in Gemeinschaft mit uns treten möchte? Sei das ernste, vorurteilsfreie Gesinnung, die allein dem Gesetzgeber seine Aussprüche vorschreiben sollte? Liege die Bildung besonderer Körperschaften der Juden und die ge- schichtliche Entwickelung derselben, abgesondert vom Staate, sowie die Beschränkung ihrer Besitzfähigkeit und ihrer Mili- tärpflicht, im Interesse der unter und mit uns lebenden Israeliten? Heiße dies die geschichtliche Entwickelung fort- setzen, wenn man an veralteten, unzureichenden Formen in ihrer feindlichen Absonderung festhalte? Sei denn das Entziehen schon gewährter Rechte der Weg, auf dem man das Judentum dem Christentum und der Gesamtbildung unserer Zeit zuzu- führen gedenke? Der Staat wolle die jüdische Nationalität in ihrer Abgesondertheit bewahren, wobei das merkwürdige Schau- spiel zutage trete, daß die Israeliten selbst weder etwas von ihrer Nationalität wissen, noch etwas davon wissen wollen. Der deutsche Jude wolle nichts anderes als ein Deutscher sein, sei es seiner Sprache, Gesinnung und Bildung nach. Er kenne kein anderes Vaterland als das deutsche. Was gehe uns daher an, ob seine Vorfahren einst in Jerusalem gewohnt haben? Leben doch genug Abkömmlinge der Franzosen, Engländer und Polen unter uns, die wir ohne solche ängstliche Kontrolle ihrer Stamm- bäume mit Recht für unsere Landsleute halten. „Wir Preußen", schrieb dann das zitierte Blatt wörtlich, „dürften uns alsdann aber vor allem nicht als Eingeborene ansehen, da wir wissen, daß unsere Voreltern ebenfalls eingewandert sind. Spricht man ferner von Bewahrung der jüdischen Religion, so werden die Juden dies zwar als Zeichen edler Duldsamkeit dem Staate hoch anrechnen, aber sich doch des Lächelns nicht erwehren können, daß der Staat ihnen gerade d i e Sache ungeschmälert bewahren will, um derentwillen er sie absondern, ja vielleicht aussondern zu müssen glaubt." Die Erfahrung habe gelehrt, daß die Israeliten ganz un- abhängig von ihren religiösen Ansichten gute Staatsbürger seien. — 133 — Niemand könne ihnen sittlichen Ernst und was man bürger- liche Tugend nenne absprechen. Und man habe noch nichts davon gehört, daß andere Staaten, wie z. B. Frankreich, Bel- gien und Holland, es jemals bereut hätten, ihnen alle Rechte des Staatsbürgertums eingeräumt zu haben. Wenn überdies der Staat in der Tat nichts anderes als moralische Zwecke verfolge, d. h. die bestmögliche Entwickelung der menschlichen Kräfte bezwecke, so sei nicht einzusehen, warum der Israelit nicht ebenso wie der Christ den staatlichen Anforderungen genügen und seinen Zwecken entsprechen soll! Der Staat als solcher kenne keinen Religions-Unterschied und daher sei der Ausdruck „christlicher Staat", wenn danmter etwas anderes als ein „voll- kommener Staat" verstanden sein soll, nichts als eine leere Formel. Es liege auf der Hand, daß auch die preußischen Juden keine besonderen Rechte und damit versehene Korporationen verlangen und verlangen können. Vielmehr erkennen sie das im Staate geltende Gesetz in all seinen Teilen auch für sie verbindlich an, sich ihm willig unterwerfend. Ja, sie halten die Beobach- tung der staatlichen Gesetze für ein ihnen gewährtes, ihre ganze bürgerliche Stellung bedingendes Recht. Wolle man endlich, um ihr Gewissen zu schonen, ihnen großmütig den Militär-Dienst erlassen, so warte man doch erst, bis sie selber im Namen ihres Gewissens um diese Vergünstigung bitten würden! Es sei aber bekannt, daß weder ihre religiöse Überzeugung, noch ihre rituellen Vorschriften sie bisher daran verhindert haben, an den Befreiungskriegen 1813 — 1815 teilzunehmen und in vielen Schlachten sich auszuzeichnen. Das damalige führende Organ des ostpreußischen Liberalis- mus betonte schließlich mit größtem Nachdruck, daß an dem Votum festgehalten werden müsse, das Minister v. Hardenberg schon im Jahre 1812 bei Beratung des Edikts vom 11. März des genannten Jahres abgegeben habe, dahin lautend: „Ich kann kein Gesetz über Juden billigen, das mehr als 4 Worte ent- hält: „Gleiche Rechte, gleiche Pflichten." Als Alexander v. Humboldt von dem hier in großen Strichen gekennzeichneten Attentats-Versuch auf die bürgerliche Gleich- stellung seiner israelitischen Mitbürger Kenntnis erhielt, war er sofort entschlossen, seine ganze Autorität in die Wagschale zu — 134 — werfen, um das Damokles-Schwert von dem Haupte der Ge- fährdeten abzuwenden. Er zauderte keinen Augenblick, energische Schritte zu tun, um das Interesse der einflußreichen und maß- gebenden Kreise für die Sache der Humanität zu gewinnen und das Zustandekommen eines ungerechten und barbarischen Ge- setzes, das die Verfassung illusorisch gemacht hätte, bei Zeiten zu vereiteln. Er richtete zuförderst einen geharnischten, brief- lichen Protest an den preußischen Minister Grafen Anton v. Wernigerode, der ihm freundschaftlich nahe stand, also lautend: „Ich habe, teuerster Graf, mit einem Schmerze, dessen Mo- tive und Richtung Sie mit mir teilen, die Anlage*), die gestern angekommen, gelesen. Ich hoffe, daß vieles sehr falsch und hämisch abgefaßt ist; wäre es nicht so, so halte ich die be- absichtigte Neuerung nach meiner innigsten Überzeugung für höchst aufregend, mit allen Grundsätzen der Staatsklugheit streitend, zu den bösartigsten Interpretationen der Motive ver- anlassend. Rechte raubend, die durch ein menschlicheres Ge- setz des Vaters**) bereits erworben sind und der Milde un- seres jetzigen Monarchen entgegen. Es ist eine gefahr- volle Anmaßung der schwachen Menschheit, die alten Gesetze Gottes auslegen zu wollen. Die Geschichte finsterer Jahrhunderte lehre, zu welchen Abwegen solche Deutungen den Mut geben. Die Besorgnis mir zu schaden muß Sie nicht ab- halten, von diesen Zeilen Gebrauch zu machen ; man muß vor allen Dingen den Mut haben, seine Meinung zu sagen." Diesen herrlichen Bekenntnisbrief, der bald darauf auch ver- öffentlicht wurde und nicht geringes Aufsehen erregte, sandte Alexander v. Humboldt abschriftlich an seinen Freund und Gön- ner, den Geh. Kommerzienrat Alexander Mendelssohn, den Enkel Moses Mendelssohns, mit den Worten: „Sie sehen, mein Teurer, daß meine etwas ungestüme Verteidigung des ewig be- *) Es handelte sich um die französische Zeitung »Journal, des Debats« vom 10. März 1842. Merkwürdigerweise war es ein französisches Blatt, das die ersten Mitteilungen über das beabsichtigte Judengesetz brachte. ••) König Friedrich Wilhelm III. von Preußen. — 135 — drängten Volkes nicht ganz erfolglos bleiben wird. Man wird etwas scheu werden und damit ist geholfen, wie auch durch des edlen Stolberg Mitwirkung/' !n diesem Sinne äußerte er sich auch in einer Zuschrift an seinen Freund, Gesinnungsgenossen und Mitkämpfer Varn- hagen v. Ense, in einem Brief vom 16. März 1842. Dort heißt es u. a.: „Im letzten gekommenen , Journal des Debats* steht ein scharfer, sehr guter Artikel über das scheußliche Judengesetz, das man androht, und über welches ich bereits sehr eindringende Worte habe hören lassen. Es sollte in dem Eingang des Ge- setzes von dem „Wunder Gottes, die jüdische Nation zu erhal- ten", geredet werden. Ich habe darauf geantwortet: „Das Ge- setz ist mit allen Prinzipien einer einigenden Staats-Klugheit streitig. Es sei eine gefahrvolle Anmaßung der schwachen Mensch- heit, die uralten Dekrete Gottes auslegen zu wollen. Die Ge- schichte finsterer Jahrhunderte lehre, zu welchen Abwegen solche Deutung Mut gebe." In der Tat gelang es dem edlen Gelehrten und der Agita- tion seiner Freunde, das Gesetz in seinem Embryo zu ersticken und der reaktionären Kamarilla vorläufig die Lust zu benehmen, mit neuen Attentaten gegen die staatsbürgerliche Gleichstellung der Israeliten hervorzutreten. In Anerkennung der Verdienste, die sich Alexander v. Hum- boldt bei diesem Anlaß sowohl, wie auch bei anderen Gelegen- heiten, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, um die Huma- nität erworben, richteten die Israeliten Westfalens eine aus der Feder des Dr. jur. Alexander Friedländer stammende und von dem Buchdruckereibesitzer Moritz Friedländer gedruckte künst- lerisch sehr hübsch ausgeführte Adresse an ihn, die wir hier ihrem Wortlaut nach aus dem Grunde mitteilen wollen, weil dieselbe ein helles Schlaglicht auf die Lage der Juden in Preußen im Anfang der 40iger Jahre des vorigen Jahrhunderts wirft: Hochgeborener Herr Kanzler! Hochzuverehrender Herr Geheimrath ! Ew. Exzellenz erlauben wir uns für die öffentlich kundge- — 136 — gebene, hohe, humane Teilnahme an den Verhältnissen der preußischen Israeliten, im Namen der uns anvertrauten Kor- poration, den tiefgefühltesten Dank auszusprechen, der um- somehr der unverfälschte Ausdruck unserer Gefühle ist, je glänzender Ew. Exzellenz erlauchter Name am Horizont der Wissenschaft und Kultur strahlt, und je geringer die Zahl der Männer ist, die sich so liebevoll und in so eindringHcher Weise des „ewig bedrängten Volkes" annehmen. In dieser Zeit der durch die eingeleiteten Verhandlungen bewirkten Spannung und Ungewißheit blicken wir daher auf Ew. Exzellenz als einen Mann, der mit einem Humboldtschen Auge unsere Lage durchschaut, und in diesem unerschütterlichen Vertrauen wagen wir es, mit unserem Dank eine Bitte zu verbinden. Jüngsthin ist nämlich an den gehorsamst unterzeichneten Rabbiner auf seine untertänigste Immediat-Eingabe folgendes höchste Ministerial-Rescript ergangen (folgt eine sehr juden- feindliche Verordnung). Durchdrungen von der Humanität und Freisinnigkeit unseres erhabenen Monarchen, könnten wir in der Ansicht vom Wesen des Staates, als eines christlichen, nur das günstigste für unsere gute Sache in Aussicht stellen, wenn ein christlicher Staat vorzüglich der sein sollte, welcher sich dem durch die christliche Religion aufgestellten Ideal eines Staates so nah als möglich bringt, eines Staates, der unsere für unsere selbständige freie Entwickelung wirksame Einheit, dessen unmittelbare Lebenswirksamkeit sein soll: selbst zu sein die anerkennende und gewährende Macht des Rechts. Nur als solch frei sittlicher Organismus vermag er sich über die konfessionellen Unterschiede zu erheben und gewährt gewiß den Israeliten ein ihnen durch die Irrtümer der Jahrhunderte versagtes Recht. Aber wenn, wie es in dem erwähnten höch- sten Rescripte angenommen zu sein scheint, ein christlicher, auf dem Grundsatze allgemeiner Liebe fußen sollender Staat der ist, der seinen hohen Zweck nur durch Ausschließung anders Gläubiger erreichen zu können meint, so sind damit die höchsten Hoffnungen der preußischen Untertanen mosaischen Glaubens vernichtet. Wenn diese Idee wieder leben wird, so wird auch das IQ. Jahrhundert den Schmerz verschwundener Zeiten nicht heilen! Aber gewiß, sie kann es nicht werden; denn sie hat das Beispiel anderer Staaten, welche Untertanen — 137 — ohne Unterschied des Glaubens gleiches Recht gewähren; sie hat Vernunft und Offenbarung gegen sich. Haben wir denn die traurigen Szenen der Geschichte schon vergessen, die dadurch entstanden, daß der Staat für eine Konfession besonders Partei ergriffen? Auch erstreben wir ja weder „obrigkeitliche Gewalt über Christen", noch auch „das christliche Gemeinwesen beein- trächtigende Rechte*'. Gewalt können und wollen w^ir nie ver- langen, solange sie nicht das ausschließliche Moment der Obrigkeit ist, solange es der Beruf der letzteren bleibt, die menschliche Freiheit und das Recht zu schützen, so lange Ämter und Bürden nicht bloß eine äußerliche Autorität, son- dern die wahre Herrschaft des Gesetzes sind, welche die allgemeine Freiheit vor Übergriffen der Selbstsucht schützt. „Beeinträchtigende Rechte*', Privilegien, wollen wir ebenso wenig. Es haben sie vielmehr alle preußischen Israeliten mit einer ihnen aufgebürdeten, falsch verstandenen Nationalität von sich gewiesen, als man ihnen die Kriegsdienstpflicht zu ent- ziehen drohte. Sie haben es da nachdrücklich wiederholt und wieder- holen es noch jetzt, daß sie mit ihrer materiellen und moralischen Errungenschaft aufgegangen sind in das große Ganze Preu- ßens, daß auf Leipzigs Ebenen ihre Vorfahren für dasselbe einen freiwilligen Heldentod gestorben, und uns unsere Reli- gion nicht hindert, ein Gleiches zu tun! Darum aber sollten wir auch nur ein Gesetz erwarten dürfen, das nach des hochseligen von Hardenbergs Ausspruch die 4 Worte ent- hält: „Gleiche Rechte, gleiche Pflichten!" Dieser Hoffnung aber dürfen wir nach obigem höchsten Rescripte noch nicht Raum geben; vielmehr können wir uns einer durch höchstdesselbe vermehrten unheimlichen Angst nicht erwehren. Doch getrost wollen wir harren; wir er- geben uns mit bitterer Resignation in das Unvermeidliche, aber „die Weltgeschichte ist das Weltgericht". Sie soll der Nachwelt zeigen, daß wir im Kampf für unser Recht nicht ermatten. Daß Ew. Exzellenz uns in diesem Kampfe mit Rat und — 138 — Tat ferner beistehen wollen, dahin geht mit nochmaliger Wie- derholung des innigsten Dankes unsere gehorsamste Bitte. In tiefster Ehrerbietung Ew. Exzellenz ganz gehorsamster Soest und Brilon I. A. Friedländer Westfalen, den 5. Juni 1842 Landrabbiner des Großherzog- L. L. Hellwitz, tums Westfalen und des Fürsten- Obervorsteher der Israeliten tums Wittgenstein, des Herzogtums Westfalen und der Grafschaft Mark. Es gab damals Leute, selbst unter den IsraeHten, die über die „Dankadressen-Manie'' der Juden Westfalens räsonnierten. Nichts konnte törichter sein als dieser Vorwurf! Als ob es eine Schande und nicht vielmehr eine Pflicht wäre, den Dank auch öffentlich zu betätigen ! Die schönen Worte, wie die Adresse der westfälischen Juden enthielt, waren nicht Reste altjüdischer Kriecherei, sondern ernste und mannhafte Gedanken, würdig eines seiner Werke und seiner guten Sache sich be- wußten Stammes. War nun auch 1842 die augenblickliche Gefahr vom Haupte der israelitischen Mitbürger Humboldts abgewendet, so war damit noch kein Sieg des freisinnigen und freiheitlichen Gedankens für alle Ewigkeit erreicht, und die alten dämonischen Mächte, die jeden Fortschritt illusorisch machten, wagten sich bei jeder sich darbietenden Gelegenheit aus ihren Höhlen hervor, um die Er- rungenschaften einer besseren und sonnigeren Zeit zu Nichte zu machen. Mit recht sah daher Humboldt in der grundsätz- lichen Lösung der Frage der Juden-Emanzipation ein „vitales** Problem nicht allein für die Israeliten, sondern auch für den Liberalismus selbst. Kam auch, wie gesagt, das „scheuß- liche" Judengesetz 1842 nicht zustande, so zeigte doch der Entwurf, der 5 Jahre später, 1847, dem preußischen vereinigten Landtage vorgelegt wurde, einen im großen und ganzen nur wenig besseren Geist. Humboldt nahm daraus mit Trauer wahr, daß das ganze Volk in seiner geistigen Bildung hoch über der des Ministeriums stehe. *) •) Briefe Humboldts an J. v. Bunsen, Seite 97. — 13Q — Bereits am 18. März 1843 klagte Humboldt mit beweglichen Worten seinem Freund Varnhagen v. Ense gegenüber, daß der König von seinem bisherigen Vorhaben nichts aufgegeben habe und jeden Augenblick neue Versuche darin machen könne, in Betreff der Juden, der Sonntagsfeier, der englischen Bischofs- weihe, der neuen Adelsrichtungen u. s. w. *) Gelang auch Humboldt eine vollständige Verwirklichung seiner humanen und ethischen Grundsätze in Bezug auf die Juden nicht, so hatte er doch wenigstens den Erfolg, daß seine Bemühungen um die Verbesserung der sozialen Lage einzelner namhafter jüdischer Persönlichkeiten durchschnittlich zum Ziele führten. Dies zeigte sich z. B. im Juni 1842 anläß- lich der Bestätigung der Wahl des jüdischen Mathematikers und Physikers Dr. Peter Rieß zum Mitglied der Berliner Aka- demie der Wissenschaften, für die Humboldt gleich eifrig in der Akademie selbst und hernach beim König wirkte. **) Es ist bezeichnend, daß Friedrich Wilhelm IV., der „Ro- mantiker auf dem Throne der Cäsaren", der erste preußische Monarch war, der der Wahl eines Juden zum Akademiker die Bestätigung erteilte. Man weiß, daß Friedrich der Große 70 Jahre vorher einem Moses Mendelssohn, den gleichfalls die Ber- liner Akademie der Wissenschaften zu ihrem Mitglied gewählt hatte, diese Bestätigung versagte. Rieß war, nebenbei gesagt, der Schwager des 1853 an der Cholera verstorbenen Majors Meno Burg, des rühmlichst bekannten Verfassers der Schriften: „Die geometrische Zeichenkunst" (Berlin 1822) und „Das ar- chitektonische Zeichnen" (Berlin 1830) und anderer Werke, des einzigen — des ersten und des letzten — preußischen Majors der Artillerie, der den Glauben seiner jüdischen Väter nicht zu „changieren** brauchte, um doch militärische Carriere zu machen. Ursprünglich war der König garnicht gewillt, den Wunsch seines Kammerherrn, Freundes und Beraters zu erfüllen. Umsomehr feierte er die endliche Königliche Bestätigung als einen bedeutenden Geistessieg. Voll Freude schrieb er an Vam- •) Briefe Humboldts an Varnhagen v. Ense, S. 124. *•) A. a. O., S. llQff. — 140 — hagen unterm 7. April 1842 *) : „Ich bin heute nicht nach Potsdam gegangen, um die Wahl in pleno des talentvollen jü- dischen Physikers Rieß zu betreiben. Sie ist für die Akademie sehr ehrenvoll ausgefallen. Nur 3 schwarze Kugeln." Zum Schlüsse seines Beglückwünschungsschreibens an den neu aufgenommenen Akademiker bemerkte Humboldt, daß „dieser Schritt der Anfang der Sühne sei, w^elche den preußischen Juden abgetragen u^ürde für das 25jährige Unrecht, das sie erdulden mußten.** Es liegt in der Natur der Sache, daß wir unmöglich all die zahllosen Beweise des Guten, des Wohlwollens, der Mensch- lichkeit und der Förderung hier anführen können, die Alexander V. Humboldt verdienstvollen, aber ihrer Religion und Nationali- tät wegen unterdrückten jüdischen Forschem, Gelehrten, Denkern, Künstlern etc. gegenüber betätigte. Ich will mich nur auf die flüchtige Schilderung noch einiger besonders bezeichnender und gleichsam kulturgeschichtlich be- deutsamer Fälle beschränken. Julius Fürst, der bekannte hervorragende Lexikograph und Hebraist, dessen Leben und Wirken wiederholt geschildert wurde, hatte seinem Gönner Humboldt viel zu verdanken. Julius Fürst wanderte als jung gebackener Dr. phil. nach Leipzig, um sein Erstlingswerk „Lehrbuch des aramaeischen Sprachgebäudes" zu verkaufen. Der greise, damals 80jährige Verlagsbuchhändler Tauchnitz, Chef des renomierten Verlags im Pleiße-Athen, hatte zuerst den Verlag abgelehnt, dann aber sich unter der Hand bei dem Orientalisten Rosenmüller über den Verfasser erkundigt und ihm schließlich 6 Taler für einen Druckbogen angeboten. „Wie selig war ich damals über dieses wahrhaft schmeichel- hafte Honorar," erzählte Fürst einst einem Freunde, „doch lange ging das nicht an. Ich mußte irgend eine Stellung suchen. Als Privatdozent in Leipzig hatte ich kaum, um davon satt zu werden. Da wandte ich mich an Alexander v. Humboldt und bat ihn, für mich eine Anstellung als Sekretär bei der Gesandtschaft in Konstantinopel zu erwirken. Er, der allen half, wenn er konnte, verschaffte mir eine Audienz bei dem König Friedrich •) A. a. O., S. 119. — 141 — Wilhelm IV. „Aber um Gotteswillen, sagen Sie nicht, daß Sie ein Jude sind," rief er mir noch nach, als ich erwartungsvoll zur Audienz war. Der König behandelte mich gnädig. Es schien alles gut zu gehen. Schon hatte er mir mit einem gewissen Wohlwollen die Entlassung zugewinkt, da, im letzten Augen- blick wandte er sich, scharf fixierend, noch einmal mir zu. „Jude?" fragte er finster. „Ja, Majestät!" Noch ein Wink und ich war entlassen. Aus meiner Anstellung aber wurde na- türlich nichts. Ich kehrte nach Leipzig zurück. Später hat mich Minister Altenstein noch manchmal behelligt. Wie einen Leib- eigenen reklamierte er mich zwei Mal als preußischen Staatsan- gehörigen. Ich kehrte aber nicht nach Preußen zurück und die sächsische Regierung schützte mich. Ich habe es doch noch zu einem preußischen Orden gebracht und den verlieh mir Fried- rich Wilhelm IV. auf Humboldts Anregung." Humboldt, dieser „Ceremonienmeister der Wissenschaft", wandte den Schriften jüdischer Autoren seine vollste Aufmerk- samkeit zu und unterließ es nicht, den betreffenden Verfassern, wenn er durch die Zusendung ihrer Arbeiten erfreut wurde, seine Anerkennung auszusprechen, bezw. auch sein Urteil abzugeben und zwar in erster Linie aus dem Grunde, damit seine allgemein geachtete Stimme zur Verbreitung der betreffenden literarischen Werke ein Scherflein beitragen könnte. Verstand er doch zur Genüge hebräische bezw. orientalische Sprachen, um den Inhalt der jeweiligen Schriften selbst prüfen zu können. Wer nur irgendwie ein Anliegen an ihn hatte, wandte sich an den allezeit hilfsbereiten und opferfreudigen Retter in der Not und bewunderungswürdig war die Unverdrossenheit und der Eifer, womit er jedem wahren Talent, jedem aufrichtigen Streben und jeder Eigenart entgegenkam, in selbstloser Weise seine eigenen Interessen hintansetzend und stets nur das Wohl der Gesamtheit und speziell der Wissenshaft vor Augen haltend. Daß Naturforscher in erster Linie seiner Sympathie und tatkräftigen Befürwortung versichert sein konnten, bedarf wohl nicht erst einer ausdrücklichen Versicherung. Wahrhaft rührend war die gütige, gleichsam väterliche Art und Weise, mit der sich Humboldt eines armen, kranken und siechen Mathematikers, des bereits im Alter von 29 Jahren — 142 — verblichenen Gotthold Eisenstein (geboren 16. April 1823 in Berlin, gestorben daselbst am 11. Oktober 1852), dessen Erdenvvandel als das Martyrium eines israelitischen Gelehrten jener Zeit bezeichnet werden kann, annahm. Dieser Hochbe- gabte, der schon als Student an namhaften mathematischen Zeit- schriften arbeitete und durch seine gediegenen Abhandlungen allgemeines Aufsehen erregte, erweckte auch das Interesse des Weltweisen von Tegel. Als er erfuhr, daß der junge Student blutarme Eltern hatte und nur mühsam sein Leben fristen konnte, öffnete er ihm sein gastfreies Haus und unterstützte ihn soweit es seine karg zugemessenen Mittel erlaubten auch finanziell. Um ihn vor Nahrungssorgen zu schützen und ihn dadurch in den Stand zu setzen, sich ausschließlich der Wissenschaft widmen zu können, erwirkte ihm Humboldt im Mai 1844 bei König Fried- rich Wilhelm IV. von Preußen ein jährliches Gnadengehalt von 250 Talern. Auch emjDfahl er den jungen Gelehrten dem großen Mathematiker Gauß in Göttingen. Da Gotthold Eisenstein lungenleidend war und nur mühsam arbeiten konnte, war Alexander v. Humboldt mit einer geradezu rührenden Fürsorge bemüht, für den Lebensunterhalt des Jüng- lings zu sorgen, sowie seinen Monarchen zu bestimmen, aus seiner Privatschatulle Vorschuß zu leisten, sowie stets neue Hilfs- quellen für den Kranken zu erschließen. Immer und immer wieder versuchte er, seinem Eisenstein eine Professur zu verschaffen. Er schrieb an die einflußreichsten Persönlichkeiten nach Heidelberg, Halle usw., aber stets ver- gebens. Der edle Wohltäter, der nur zu gut wußte, wie es um den Gesundheitszustand des jungen Gelehrten bestellt und daß dieser unrettbar dem Tode verfallen war, setzte alle Hebel an, um wenigstens alle Nahrungssorgen von ihm fern zu halten und durch reichliche materielle Gaben sein Leben zu verlängern. Als Eisenstein von einem starken Blutsturz befallen nach dem Kran- kenhaus Bethanien geschickt werden mußte, spendete er ihm sofort 20 Friedrichsdor aus eigener Tasche, um seine Pflege zu erieichtern. Die Ärzte hielten eine Übersiedelung des Kranken nach Sizilien auf ein volles Jahr für notv/endig. Nun war Hum- boldt mit Feuereifer bemüht, das Geld zu einer solchen Reise und für den Aufenthalt in Sizilien zusammen zu scharren. Der Geh. Kommerzienrat Alexander Mendelssohn stellte dem Natur- — 143 - forscher sofort 100 Taler zur Verfügung, wenn die Reise zu- stande komme. Auch die preußische Regierung zeigte sich jetzt viel zuvorkommender als früher. Der Finanzminister von Bodel- schwingh bewilligte eine Unterstützung von 500 Talern und auch andere Wohltäter versprachen größere Summen — aber leider war das Schicksal des Kranken besiegelt. Er war zu schwach, um die Reise anzutreten, und starb, wie gesagt, in der Blüte seines Lebens, eine Blume, gebrochen, eh' der Sturm der Welt sie entblättert! Das Ableben des jungen Mathematikers erschütterte seinen Mäcen auf das tiefste. „Ich finde keine Worte" — sagt er in dem Kondolenzschreiben an den Vater des Verblichenen — , „Ew. Wohlgeboren den Schmerz auszudrücken, den ich empfinde. Sie und Ihre treue Gattin wissen, wie ich an diesem so selten begabten Sohne hing, wie seit Jahren sein und Ihr Kummer der meinige war . . . ." Der Aufenthalt Alexander von Humboldts in Paris von 1808 — 1826 gereichte zum wahren Segen für zahlreiche deutsche Gelehrte und Forscher, die sich während jener Zeit zu Studien- und sonstigen Zwecken in der Hauptstadt Frankreichs aufhielten. Für den großen Sprachforscher Klaproth erwirkte er von der Berliner Regierung Unterstützungen zur Herausgabe von dessen Werken, so daß Klaproth nicht weniger wie 40 000 Francs zur Veröffentlichung seiner asiatischen Studien erhielt. Viele Deutsche führte er bei Pariser Gelehrten und Staats- männern ein, während er andere mit seinem Rate wirksam unterstützte. So empfahl er den hervorragenden jüdischen Juristen Eduard Gans einem Cuvier und anderen. Besonders typisch für die Gönnerschaft Humboldts war sein Verhalten Justus Liebig gegenüber. Diesem blut- jungen Chemiker wurde am 28. Juli 1823 die Auszeichnung zu teil, daß in der Sitzung der französischen Akademie der Wissenschaften der französische Chemiker Gay-Lussac eine Ab- handlung Liebigs über Howards fulminirende Silber- und Queck- silber-Verbindungen vortrug und dadurch die Aufmerksamkeit hervorragender und einflußreicher Celebritäten auf den jungen Forscher lenkte. *) Zu Ende der Sitzung, mit dem Zusammen- *) Vergleiche »Justus von Liebig. Sein Leben und Wirken von Dr. Adolph Kohut«, zweite Auflage, S. 40 ff. — 144 — packen seiner Präparate beschäftigt, näherte sich Liebig aus der Reihe der MitgUeder ein Mann und knüpfte mit ihm eine Unter- haltung an. Mit der gewinnendsten FreundUchkeit wußte der Fremde den Gegenstand von Liebigs Studien und von seinen son- stigen Beschäftigungen und Plänen zu erfahren. Sie trennten sich, ohne daß Liebig aus Unerfahrenheit und Scheu zu fragen wagte, wer der Fremde sei, welcher beim Auseinandergehen den jungen Chemiker zum Diner in einem Restaurant im Palais Royal einlud und sich erst da zu erkennen gab. Es war Alexander von Humboldt, der nach längerer Abwesenheit gerade Tags zu- vor aus Italien nach Paris zurückgekehrt war. Humboldt empfahl nun seinen jungen Landsmann, den er so schnell und so herzHch liebgewonnen, aufs wärmste seinem Freund Gay-Lussac. Diese Unterhaltung und Empfehlung wurde der Grundstein von Liebigs Laufbahn, in dem weisen Heros der Wissenschaft hatte er seinen mächtigsten und einflußreichsten Förderer gefunden. In überströmenden Dank widmete er 17 Jahre später Hum- boldt sein Werk: „Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agri- kultur und Physiologie." Er sagt darin unter anderem: „Unbe- kannt, ohne Empfehlungen, in einer Stadt, wo der Zusammen- fluß so vieler Menschen aus allen Teilen der Erde das größte Hindernis ist, was einer näheren persönlichen Berührung mit den dortigen ausgezeichneten und berühmten Naturforschern und Gelehrten sich entgegenstellt, wäre ich, wie so viele andere, in dem großen Haufen unbemerkt geblieben und vielleicht unter- gegangen; diese Gefahr war völlig abgewendet. Von diesem Tage an waren mir alle Türen, alle Institute und Laboratorien geöffnet; das lebhafte Interesse, welches Sie mir zuteil werden ließen, gewann mir die Liebe und innige Freundschaft meiner mir ewig teuren Lehrer Guy-Lussac, Dulong und Thenard. Ihr Vertrauen bahnte mir den Weg zu einem Wirkungskreise, den ich seit 16 Jahren' unablässig bemüht war, würdig auszufüllen. Wie viele kenne ich, welche, gleich mir, die Erreichung ihrer wissenschaftlichen Zwecke Ihrem Schutze und Wohle verdanken. Möchten Sie mir gestatten, die Gefühle der innigsten Ver- ehrung und der reichsten aufrichtigsten Dankbarkeit öffentlich auszusprechen." — 145 — Ganz im ähnlichen Sinne nahm sich Humboldt des schon ge- nannten ausgezeichneten Mathematikers Dirichlet an, indem er ihn 1825 bei Francois Arago einführte und es fertig brachte, daß sein Schützling zum außerordentlichen Professor der Mathe- matik in Breslau und später in Berlin ernannt wurde. Den aus seinem dänischen Vaterlande verbannten Mathema- matiker Malte-Brun führte er bei dem großen französischen Mathematiker Laplace ein, machte . ihn mit Leopold von Buch und dem englischen Geographen Lewy bekannt und verschaffte ihm die Mitarbeiterschaft an deutschen uissenschaftlichen Zei- tungen. *) Nicht nur Gelehrte, sondern auch Künstler und Schriftsteller erfreuten sich seiner tatkräftigen und gar oft von großen Erfolgen gekrönten Protektion. So förderte er den Maler Karl von S t e u b e n und suchte auf jede Weise das Interesse der Kunst- freunde und Gönner für seinen Schützling zu erwecken. Als Kanzler der Friedensklasse des Ordens pour le merite war sein Augenmerk stets darauf gerichtet, namhafte Künstler zu Rittern dieses Ordens vorzuschlagen. Zu diesen Dekorierten zählte unter anderen Giacomo Meyerbeer, mit dem und dessen Familie er intim befreundet war. Was ihn an dieselbe so sehr fesselte, war vor allem das Talent, das ideale Streben und die Vorliebe für Kunst und Wissenschaft, welche Eigen- schaften der Beer'schen Dynastie eigen w^aren. Als für ihn und seine Gesinnung besonders kennzeichnend sei hier eines Briefes von ihm aus Potsdam, 8. Juni 1848 an Bunsen **) Erwähnung getan, worin er den Neffen Meyerbeer's, Georg Beer, mit folgenden Worten empfiehlt: „Der Neffe eines Mannes, der mir sehr lieb ist, dessen Gesinnungen so edel als seine schöpferischen Talente großartig sind, der Neffe von Meyerbeer, bringt Ihnen diese Zeilen. Sie enthalten eine Bitte: der sehr junge Reisende, der sehr gute klassische Studien ge- macht hat, sich aber dem Handelsstande widmet, heißt Georg Beer. Sein Vater hat das Verdienst, gemeinschaftlich mit Pro- fessor Mädler eine vortreffliche Mondkarte angefertigt und mit vieler Geldaufopferung publiziert zu haben. Die sehr opulente •) A. A. O., Seite 70. **) Briefe A. v. Humboldts, Seite 102. Kohut, Gekrönte und ungekrönte Judenfreunde. 10 — 146 — Familie ist durch große patriotische Wohltätigkeit, die sich auf alle Religionsverbände ausgedehnt, wie durch gastliche Aufnahme aller fremden und einheimischen Gelehrten und Künstler in der reizenden Villa im Tiergarten berühmt. Der junge Mensch wird nur einige Monate in England verweilen zur Vollendung seiner geistigen Ausbildung. Sie werden mich sehr verpflichten, teurer Freund, wenn Sie dem jungen Georg Beer Ihren Schutz und einiges Interesse schenken wollten." — Bei diesem Anlaß sei erwähnt, daß Meyerbeer es war, der den Dichter Ludwig August Frankl am 21. Oktober 1857 bei Humboldt einführte, wobei der Poet dem Nestor der Natur- wissenschaft ein Exemplar seines „Colombo" mit folgender Widmung überreichte: Kein König und kein Schlachtenheld Sein Ruhm wird ewig gelten. Du aber hast in neuer Welt Entdeckt erst neue Welten. Der Spruch der Mit- und Nachwelt heißt: Er gab den Körper, Du den Geist. Die von ihm mit solchem Eifer und solcher Folgerichtigkeit allezeit in Schutz genommenen Israeliten bezeugten ihre Dank- barkeit dadurch, daß einige der jüdischen Gelehrten seine Bio- graphie in hebräischer Sprache verfaßten. Zu diesen zählte z. B. der Mathematiker Chajim Selig Slonimski, der zur Feier des 88. Geburtstages des Humanitätspropheten eine vortreff- liche Biographie und zugleich Schilderung der wissenschaftlichen Taten desselben herausgab, *) Was diesen im hochbetagten Alter gestorbenen Forscher betrifft, so hatte auch er Humboldt viel zu verdanken. Dieser interessierte sich für den vortrefflichen Mathematiker und Astronomen, der mehrere Schriften voll scharfsinniger For- schungen herausgab und unter anderem ein Recheninstrument erfand, infolgedessen die Petersburger Akademie der Wissen- schaften in ihrer Sitzung 26. Mai 1845 ihm den Demidoff- schen Preis von 2500 Rubeln zuerkannte. Durch Vermittlung Humboldts durfte sich Slonimski dem König Friedrich Wil- *) Berlin 1858. — 147 — heim IV. vorstellen, der ihn sehr wohlwollend aufnahm. In seiner Festschrift über Humboldt äußert sich Slonimski unter anderem: „Ich habe mich bestrebt, auch unsern Glaubensge- nossen, welche Begebenheiten in hebräischer Sprache zu lesen wünschen, die Biographie dieses vielteuren Mannes zu erzählen, um einerseits ihr Herz für die Herrlichkeiten der großen Ent- deckungen, die zutage gefördert wurden, zu erwärmen und an- dererseits ihnen zu zeigen, welcher ungeheuren Mühen und Strapazen sich die Forscher Zeit ihres Lebens unterziehen ohne zu ermatten, um nur die Geheimnisse der Weisheit zu enthüllen und die Wahrheit zu erlangen. Aber ich wollte hiermit auch ein Erinnerungszeichen auf den Gefilden der hebräischen Sprache für den Namen des Weisen errichten, welcher der Erste in den Wissenschaften ist, und der dennoch mit der Fülle seines Ge- rechtigkeits- und seines Edelsinnes stets den Israeliten beige- standen, um vor den Augen aller Völker und Nationen rühmens- wertes über dieselben zu äußern; wahrlich, ein jeder Jude, in dessen Brust die Liebe zu seinem Volke lebt, muß Dank und Ver- ehrung zu Ehren des edlen Weisen darbringen, vor dessen glor- reichem Namen selbst die Sonne verblaßt, und dessen Verdienste die Jahrhunderte überdauern werden." Humboldt war nicht unempfänglich für solche seine hu- manitären Bestrebungen und Leistungen anerkennende Worte, wie man dies schon aus dem Dankbrief ersehen kann, den er an den Verfasser richtete und worin er, gleichsam am Rande des Grabes, aufs neue bekräftigte, daß alle Zeit die Menschlichkeit der Leitstern seines Tuns und Handelns gewesen sei. Es heißt dort unter anderem : „Der hebräischen Literatur leider entfremdet, aber von früher Jugend an mit den Edelsten Ihrer Glaubensgenossen innig ver- bunden, ein lebhafter und ausdauernder Verfechter der ihnen gebührenden und noch vielfach entzogenen Rechte, bin ich nicht gleichgültig für die Ehre, die Sie mir erwiesen haben. Das Zeugnis eines tiefen orientalischen Sprachkenners, des vor- trefflichen, mannigfach ausgebildeten Dr. Michael Sachs, kann eine solche Auszeichnung nur erhöhen." Dem Nestor der Wissenschaft genügte es nicht, daß die judenfeindlichen Elemente im Staate kopfscheu und vorsichtig wurden, sondern er war auch darauf bedacht, daß die Mög- 10* — 148 — lichkeit, aufs Neue verfassungsmäßig erworbene Rechte zu an- nullieren, nicht wiederkehre. Er benutzte dazu jeden sich ihm irgendwie darbietenden Fall, um vor der breitesten Öffentlich- keit seinen Abscheu gegen Gesetzes-Verletzungen, Chikanen und Drangsalierungen auszusprechen. Der Adel der Gesinnung zeigte sich bei unserem Humani- tätspropheten auch bei vielen anderen Anlässen. So z. B. in seinem Urteil über die Negersklaverei, und zwar schon zu einer Zeit, als die armen geknechteten Schwarzen in traurigster Lage sich befanden, und die Möglichkeit einer Befreiung aus den drückenden und unwürdigen Verhältnissen nur wie ein phantastischer Traum erschien. Noch als Urgreis, als „fossiles*' Wesen, hatte er für alles Interesse und auch für das Fernliegendste ein feines Verständ- nis und ein treffendes Urteil. Selbst dann noch verurteilte er jeden Rückschritt, jedes Stillestehen und jeden Versuch, die geistige Freiheit niederzuringen. Nicht überzeugender konnte das Erziehungssystem, wie es damals durch die Minister Eich- horn und K. O. von Raumer in Preußen vertreten wurde, ver- urteilt werden, als dies von ihm im 86. Lebensjahre getan wurde. Eine im wesentlichen harmonische Herzens- und Charakterbildung zu erzielen, so meinte er, sei die Aufgabe der Schule, aber diese Art der Bildung — es handelte sich besonders um Gymnasien — könnte man, wenn man ein etwas unedleres Bild gebrauchen wollte, mit dem Nudeln der Gänse vergleichen. Es setzte sich blos Fett an, aber kein gesundes Fleisch; an Wachstum sei nicht zu denken. Eine mit sich abgeschlossene Selbstzufrieden- heit, ein naseweises Aburteilen über alles, das seien infolge davon die Hauptzüge unserer Jugend. Alle geistige Frische gehe verloren. Die jugendlichen Geister seien jetzt die Knospen, die jnan im heißen Wasser abgebrüht habe, es fehlen ihnen alle Keim- und Triebkräfte, die ihnen ja in dem brodelnden Hexen- kessel moderner Erziehungskunst verloren gegangen seien. „Die alte Schulmethode,'' sagte er wörtlich, „mag auch ihre Fehler gehabt haben, aber sie war naturwahrer, sie machte eine selbständige Entwicklung des Geistes möglich. Ich war 18 Jahre alt und wußte noch so gut wie gamichts. Meine Lehrer glaubten auch nicht, daß es viel mit mir werden würde, und es hat ja doch noch so gut getan. Wäre ich der jetzigen Schulbildung in — 14Q — die Hände gefallen, so wäre ich leiblich und geistig zu Grunde gegangen." So sprach Humboldt vor mehr als 50 Jahren, und wer weiß, ob er heute anders sprechen würde! Alexander von Humboldt ruht nun schon lange im Schoß der Erde. Ganz ungeheuer sind die Fortschritte, die auf allen Gebieten der Wissenschaften, besonders der Naturwissenschaft, seitdem erreicht wurden; nur die Errungenschaften auf dem Felde der Ethik, der Menschen- und Nächstenliebe haben mit den glänzenden Ergebnissen des menschlichen Wissens und der menschlichen Erkenntnis nicht gleichen Schritt gehalten. Hier ist noch sehr viel nachzuholen und sehr viel zu erhoffen und zu erstreben, bis die Ideale verwirklicht werden, die in der Seele des Unsterblichen lebten. Daher glaube ich, daß es keine verlorene Mühe war, den Geist des großen Toten heraufzube- schwören, damit sein Beispiel uns ansporne und anfeure. Berühmte Schriftsteller in ihrem Standpunkt zur Judenfrage. Christoph Martin Wieland. Der vor einem Jahrhundert, am 20. Januar 1813, im hohen Greisenalter verstorbene Dichterpatriarch Christoph Martin W i e 1 a n d zählte zu den beweglichsten und interessantesten dich- terischen Charakterköpfen der vorweimarischen klassischen Zeit, Ein vielseitiger, fruchtbarer und geistreicher Dichter, Schriftsteller und Übersetzer, hat er unsere Nationalliteratur mit zahlreichen Werken bereichert, die nicht samt und sonders das Gepräge der Unsterblichkeit an der Stirn führen. Manche sind seicht und oberflächlich, manche nur aus der Zeit heraus zu erklären, und manche ermangeln der originellen Schöpferkraft. Aber einige seiner Romane und Epen, wie zum Beispiel „Agathon", „Ge- schichte der Abderiten" und „Oberon", werden dem Ruhm ihres Verfassers noch in kommenden Jahrhunderten verkünden. Es ist hier nicht der Ort, auf die Bedeutung Wielands als Dichter, Denker und Schriftsteller näher einzugehen. Was ihn uns besonders sympathisch erscheinen läßt, ist vor allem sein reiner, lauterer, edler und makelloser Charakter. Er gehörte in dieser Beziehung zu den sympathischsten Persönlichkeiten des deutschen Parnasses im 18. Jahrhundert. Stets wollte er nur das Gute, seine Absichten waren die besten, und sein Ehren- schild war nie durch irgendeinen Flecken beschmutzt. Was ihn vor allem auszeichnete und ihm Tausende und Abertausende von Verehrern, zu denen in erster Linie auch Goethe gehörte, verschaffte, war der Umstand, daß er Duldung in jeder Be- ziehung und in weitestem Maße übte. Wie er einzelnen gegen- über diese Toleranz betätigte, so lehrte er sie auch in bezug auf unterdrückte Völker und Religionen. Einer der überzeug- testen Söhne der Aufklärungszeit, verkündete er mit beredten — 152 — Worten und mit dem ganzen Reiz seiner Poesie die welter- lösenden Lehren edelster Menschlichkeit. Es wird ihm zum ewigen Ruhm gereichen, daß er diese seine Gesinnungen auch den Parias der Menschheit, den aller Rechte beraubten, immer befehdeten und verfemten Juden gegen- über gleichfalls betätigte. Nie hat er eine Zeile in seinen Werken und Briefen geschrieben, nie eine Bemerkung gemacht, die man als eine judenfeindliche hätte deuten können, wohl aber legte er wiederholt eine Lanze für die staatsbürgerlichen Rechte der Israeliten ein. Mag hier nur eine einzige Probe dieser seiner Anschau- ungen betreffs des Volkes Israel mitgeteilt werden. Im dritten Quartal des von ihm geleiteten „Teutschen Mer- kur" vom Jahre 1775 veröffentlichte Wieland einen den Isra- eliten sehr sympathischen Artikel, den Christen zu Gemüte führend, ihnen gegenüber die Menschenrechte und die Menschen- würde zu wahren und sie gleich Brüdern zu betrachten. Der Aufsatz lautet : „Gedanken über das Schicksal der Juden". Der Herausgeber versah bei der Veröffentlichung den in vielfacher Hinsicht hochinteressanten Artikel mit nachstehender empfehlender Fußnote: „Von einem Ungenannten eingesandt, den alle gutdenkenden Leser des „Merkus" mit mir lieben und zu kennen wünschen werden." Dieser Abhandlung sei nur einiges besonders Charakteri- stische hier entnommen. Anknüpfend an die Aufsehen erregenden Enthüllungen, die zu jener Zeit ein Reiseschriftsteller bezw. ein französischer Offi- zier über die Leiden und trostlosen Schicksale von Mohren- sklaven in Afrika machte, die Europäer beschuldigend, daß sie die Unglücklichen unmenschlich und grausam verfolgten, wirft er die Frage auf, ob es denn nicht ebenso heilsam wäre, auch Menschlichkeit gegen diejenigen Mitbürger zu üben, die mitten unter uns in der „höchsten moralischen Unglückseligkeit" leben müssen? Dann sagt er wörtlich: „Das Herz blutet mir bei diesem AnbUck. Ein Volk, durch die Blindheit seiner Väter von allem beraubt, was Trost des Herzens, was Ruhe der Seelen, was äußere Sicherheit, was aufmunternde Aussicht in die Zukunft kann genannt werden, muß, als wäre es noch nicht bedauernswürdig genug, auch — 153 — das Opfer unserer Verachtung, unserer Ungerechtigkeit, unserer Habsucht werden. Menschen! Wo denkt ihr hin? Die Hand des Höchsten kann euch treffen, so wie sie jene getroffen hat. Sie wird euch treffen. Leset die Aussprüche der ewigen Weis- heit des Allmächtigen, der nicht lüget. Micht dünkt, ich sehe sie schon zum Teil in ihre Erfüllung gehen. Die Vorboten davon sind bereits unter euch getreten. Der Schwindelgeist in dem, was unter den Christen das Unwandelbarste sein sollte, die Unreinigkeit in den Sitten, die Untreue untereinander, der Verfall in alle die Laster, die vormals das jüdische Volk und ihren Gott voneinander trennten, was sind sie anders? Und was soll ich von der Verblendung sagen, die sich schon hie und da spüren läßt, da manche lieber heidnischen Göttern op- ferten, als dem lebendigen Gott, wenn sie ihre Lüste nur unge- hindert und unter eben dem Scheine von Heiligkeit befriedigen könnten. Die Art der göttlichen Gerichte bringet es so mit sich, daß diejenigen, die anderer Gebrechen unbillig tadeln, mit unzeitiger Strenge ahnden, sie vorsätzlich in die Gefahr bringen, lasterhaft zu werden, am Ende selbst in diese Fehler verfallen, ohne eben den Grad der Nachsicht weder bei Gott noch bei Menschen finden zu können. Wir hassen die Juden, weil sie eine andere Sprache, an- dere Sitten haben als wir. Wir verfolgen sie, weil Gott sie um ihrer Laster willen mit Blindheit geschlagen hat, daß sie zu ihrem Heile das nicht glauben können, was wir glauben. Wir verachten sie, weil sie auf eine niedrige Weise das Ihrige erwerben. Wir drücken sie, um uns mit dem Ihrigen zu be- reichern. Stählerne Herzen! Unweise Knechte! Sollt ihr so mit euren Mitknechten verfahren? Wo stehet die Anweisung dazu? Kommt euch nicht das Heil, alle geistliche, ja selbst der größte Teil eurer bürgerlichen Glückseligkeit von ihnen? Was wäret ihr, ehe das Licht, welches unter ihnen aufging, euch erleuchtete? Hat Gott sie verworfen, so wisset, daß er sie wohl wiederum in dem rechten Stamme einpfropfen kann, um bessere Früchte zu tragen als ihr; und glaubet, daß er es tun werde, denn er hat es gesagt. Und was meinet ihr, sollte er dies zahllose Volk umsonst, oder nur darum unter euch zerstreuet haben, damit ihr es verachtet? Wie ging es den Ägyptern? — Oder sollte dies merkwürdige Volk euch nicht vielmehr zu einem Beispiele, — 154 — zu einer Warnung, zu einer Ermunterung dienen? Sollte die ewige Weisheit nicht hohe Absichten gehabt haben, da sie dieses Volk über den ganzen Erdboden zerstreuete? Denket dem nach, und werdet klug! Doch laßt sehen, ob ihr Grund habt, sie zu verachten, oder euch selbst? Prüfet genau! Seid unparteiisch! Es ist wahr, sie glauben nicht das, was wir glauben; sie glauben nicht das, was sie glauben sollten; aber, sie sind doch dem treu, was sie glauben. Und ihr? Ihre Sprache lautet wunderlich, sie hat nicht den Wohl- klang, nicht die Zierlichkeit, nicht die Regelmäßigkeit der eurigen. Freilich, ein großer Fehler; aber sie ist doch rein von Ausdrücken, von Bildern, für deren wahre Bedeutung die Tugend erröten muß, von Wendungen, worin ihr in der eurigen die schamlosesten Dinge zu verhüllen wisset. Ein wesentliches Verdienst, dünkt mich, um so viel wesentlicher, meines Erachtens, als es keinen anderen Ursprung als in der Reinigkeit ihrer Sitten haben kann. Und sollten wir etwas anderm als dieser die Einigkeit, worin sie unter sich leben, beimessen können? Sind sie weniger gute Eltern, weniger gute Hausväter, weniger getreue Ehegatten, als wir? Ich fürchte, wir verlieren bei dieser Vergleichung. Und können wir diese Tugenden an ihnen gewahr werden, ohne überzeugt zu sein, daß der Keim aller andern bürgerlichen Tugenden bei ihnen verborgen liege, und nur auf Gelegenheit zu dem glücklichsten Ausbruche warte? Aber wie? Sie bereichern sich auf unsere Unkosten; sie erwerben auf eine niedrige Weise? Ja! aber doch treiben sie keinen schändlichen Gewinn. Ihr verstehet mich. Und sind sie unsere heimlichen Blutegel, so machen wir sie dazu, indem wir ihnen den Zugang zu erlaubteren Gewerben versperren. Die Not macht sie zu dem, was sie sonst nicht sein würden. Und euer eigenes Beispiel? — Wer unter euch ohne Fehl ist, der werfe den ersten Stein auf sie, ihr christlichen Wucherer! Und ihr seid Glaubensgenossen, Schafe einer Herde! Doch eben diese Betrachtung führet mich zu einer andern, die nicht weniger wichtig für euch als für sie ist. Ihr kennet diese Leute. Sind sie weniger verschlagen als ihr? Sollten sie weniger Fähigkeit zu nützlichen Gewerben haben als ihr? Warum — 155 — laßt ihr diese ergiebige Quelle des Reichtums ungenutzt dahin fließen? Sehet! sie überströmet eure Äcker und Wiesen, und reißet die Früchte eurer sauren Arbeit mit sich dahin. Ihr drücket diese Unglücklichen, um euch von ihrem Fette zu nähren. Wie groß ist die Schande ! wie geringe der Lohn ! Denn was könntet ihr Ansehnliches einem Haufen entreißen, der sich nur verstohlenerweise auf eure Unkosten bereichern darf? Sollte Gott dies nicht ahnden? Und was gewinnt der Staat dabei? Seid Menschen! so werdet ihr Ehre und das Vaterland Gewinn haben. Beide bleibend und fortdauernd, und Gott wird euch segnen; denn sollte er Unglückliche können glücklich machen sehen, ohne zu belohnen? Mich dünkt immer, wenn ich diese Unglücklichen erblicke, daß Gott sie unter uns geworfen habe, um unsern Glauben durch ein herrliches Werk der Barmherzigkeit zu prüfen. Nun wohlan! so laßt uns denn barmherzig sein gegen sie, gegen das Vaterland, gegen uns selbst! Laßt sie uns auf- nehmen als Brüder! Laßt uns ihnen die Vorrechte einräumen, wodurch sie nützliche Mitglieder des Staats werden können! Laßt uns ihnen die Türen zu allen nützlichen Gewerben öffnen! Laßt ims ihnen die Hoffnung zeigen, daß sie auf diesem Wege auch Ehre erlangen können. Alsdann werdet ihr Recht haben, es ihnen zu versagen, sich durch unerlaubte Mittel zu bereichern; alsdann werdet ihr Recht haben, sie als Übertreter zu strafen. Verstattet ihnen Freiheit, und bindet sie durch eure Gesetze! Tut an ihnen, was ihr wollet, das man auch an euch täte! Sehet, so wird es euch noch einmal gelingen, sie auch zu der Erkennt- nis zu bringen, durch die wir dereinst der höchsten Glückseligkeit teilhaftig zu werden versichert sind. Und welche Tat kann edler sein als die, wodurch Menschen geholfen, dem Vaterlande gedienet, Gott geehret und wir selbst mit Ruhm und göttlichem Wohlgefallen bekrönet werden?" Daß ein Mann, der so unumwunden gegen Vorurteile an- kämpfte und für die Menschenrechte und Menschenwürde seiner israelitischen Glaubensgenossen so warm eintrat, auch den be- rühmtesten und verdienstvollsten Sohn Israels unter seinen Zeit- genossen, Moses Mendelssohn, hoch achtete und ver- ehrte, bedarf eigentlich keiner besonderen Ausführung. — 156 — Immerhin dürfte es von Interesse sein, die Beziehmigen zwi- schen beiden hier mit einigen Worten näher zu beleuchten. Wieland hatte, wie gesagt, große Sympathie und Verehrung für den Verfasser des „Phaedon". Da er selbst in seinen Ro- manen, Dramen und philosophisch-ästhetischen Abhandlungen sich vielfach mit dem literarischen und Geistesleben und den Helden der griechischen Kulturwelt beschäftigte, diente ihm in der Auffassung der antiken Welt Moses Mendelssohn als Vor- bild. Die Klarheit und Anschaulichkeit der Philosophie des „modernen Sokrates" sowie seine meisterhafte Beherrschung der Sprache riefen sein Entzücken hervor. War doch auch er bemüht, dem deutschen Volke eine Schriftsprache zu schaffen, die etwas von der sonnigen Klarheit und Wärme des griechischen Himmels erkennen ließ. Auf das maßgebende kritische Urteil von Mendelssohn gab er außerordentlich viel, und jedes Wort der Anerkennung, das ihm von einer so ausschlaggebenden Seite kam, erfüllte ihn mit Stolz und herzHchster Befriedigung. Es bereitete ihm außerordentliche Freude, daß Mendelssohn in seinem Werk über Phaedon unter anderen herv^orragenden Schriften auch Wielands Werk: „Gespräche Sokrates und seiner Freunde*' seiner Beachtung für wert hielt und sich eingehend damit beschäftigte. Es galt ihm dieser Umstand als ein Beweis dafür, daß der berühmte Denker in ihm nicht bloß den Schön- geist und den liebenswürdigen Feuilletonisten, sondern auch einen Forscher achtete, der über die Fragen der Weltweisheit im klassischen Hellas und über die dortigen Geisteshelden seine eigenen Ideen hatte. In den Briefen, die Wieland an seine intimen Freunde, wie zum Beispiel an den Arzt und philosophischen Schriftsteller Dr. I. G. Zimmermann und Professor Riedel, schrieb, bekundet er wiederholt, daß es ihn glücklich mache, daß Moses Mendels- sohn bald über das eine, bald über das andere Werk von ihm sich im günstigen Sinne äußere. Mendelssohn verschmähte es in der Tat nicht, die besseren, das heißt die inhaltreicheren Schriften Wielands seiner Lektüre zu würdigen, und da ihm einige derselben sehr gefielen, äußerte er oft in lebhaften Wor- ten seine Anerkennung. — 157 — Von dem humoristischen Roman des Dichters „Don Sylvio von Rosalva'' zum Beispiel war er ganz entzückt. Nach seiner Auffassung machte dieser „Don Quichotte Wieland mehr Ehre, als ein ganzer Wust von Heldengedichten." Noch mehr ergötzten ihn die Staats- und geschichtsphilosophischen Erzählungen des Verfassers; „Der goldene Spiegel**, worin Wieland den Beweis erbrachte, daß er auch ein scharfsinniger Politiker war, der über die Probleme der Staatsweisheit sich seine eigenen Ansichten gebildet. In diesem Sinne schreibt er einmal an den bereits genannten Zimmermann am 25. Juni 1772: „Was für ein außerordentlicher Mann ist Ihr Freund Wieland! Seit vielen Jahren hat mich kein Buch so ergötzt, als der 3. Teil seines „Goldenen Spiegels**. Man sieht, der Mann darf nur wollen, hier zeigt sich der Weltweise, der Verehrer der Gottheit, der Lehrer der Tugend und der unnachahmlichste Schriftsteller in seinem stärksten Licht.** *) Zimmermann, einer der treuesten und vertrautesten Freunde ■Wielands, beeilte sich, von diesem schmeichelhaften Gutachten des gefeierten Denkers Wieland Kenntnis zu geben, zumal er wußte, welchen hohen Wert dieser dem Votum Mendelssohns beimaß. Voll Jubel antwortete der Poet auf diese Mitteilung Zimmermanns: Biberach, den 8. Oktober 1767. „Sie haben mir durch die Mitteilung des Auszuges aus dem Briefe von Herrn Moses Mendelssohn ein außerordentliches Vergnügen ge- macht. Es sind mir wenige Geister in Europa bekannt, deren Beifall für mich so vielen Reiz haben könnte, als des Herrn Mendelssohns, Ich gesteh' Ihnen, mein liebster Freund, seit- dem ich mich auf lebenslang verurteilt sehe, in Biberach zu wohnen, wünsche ich mir mehr als jemals ein wenig mehr für alltägliche Schriftstellersreputation als eine Schadloshaltung für die vielen anderen Glückseligkeiten, die ich entbehren muß , , , Wenn etwas wäre, das mich stolz machen könnte, so wäre es gewiß, von einem Mendelssohn gelobt zu werden.** **) Ähnlich äußerte sich Wieland gegen Professor Riedel bald nach dem Erscheinen seines kulturgeschichtlichen Romans „Agathon**: (Biberach, am 4. Februar 1768.) „Sie sagen mir ohne Zweifel so viel Gutes von dem „Agathon** . . , , Indes •) Vergl. Eduard Bodemann, joh, Georg Zimmermann, Seite 286. ^*) Wielands ausgewählte Briefe, 2. Band, Seite 282 ff. Zürich 1815. — 158 — gestehe ich Ihnen doch sub sigillo confessionis, daß ich selbst etwas auf dieses Buch halte und daß die deutschen Kunstrichter und Leser zusammen genommen durch ihre mehr als phleg- mathische Gleichgültigkeit über ein Werk von dieser Art meine Erwartungen übertroffen haben. Seltsame Nation, wer würde für Dich arbeiten wollen, wenn der Reiz der Musen n icht mächtiger wäre, als Deine Indolenz! Doch es soll mir genug sein, principibus placuisse vires, und ich habe das Vergnügen, Ihnen zu sagen, daß Zimmermann und Moses Mendelssohn unter diesen sind." In der Tat zählte „Agathon" zu den Lieblingsbüchern Mendelssohns. In diesem Sinne schreibt er einmal an Jakob H. Obereit in Lindau, den Schützling Wielands : „Versichern Sie die schöne Metaphysikerin — als welche die Psyche im „Agathon" erscheint — meiner aufrichtigsten Hochachtung, Heber würde ich Liebe sagen, wenn zwei Metaphysiker sich Heben könnten, bevor sie wissen, ob sie beide aus einer Schule sind , ." Erinnerten doch manche philosophischen Ausführungen Wielands in seinem „Agathon*' an die Ideengänge des Denkers Mendels- sohn in seinen zahlreichen Schriften, die sich mit der Welt- weisheit, der Metaphysik und der Psychologie befassen! Im übrigen glaube man nicht, daß der Verfasser des „Phaedon" ein bedingungsloser Verehrer Wielands gewesen wäre und alles über Bausch und Bogen gelobt hätte, was er ver- faßte. Manche seiner Arbeiten forderte seinen Widerspruch hervor und er zögerte keinen Augenblick, das, was ihm mißfiel, offen auszusprechen, denn die Wahrheit ging ihm über alles und in dieser Beziehung kannte er keine Rücksicht, weder gegen Freund noch Feind. So hat er zum Beispiel das Drama Wielands „Johanna Gray'' in der damaligen namhaftesten Zeitschrift Ber- lins „Bibliothek der schönen Wissenschaften" scharf getadelt und auch an einem anderen Trauerspiel von ihm, betitelt: „Klemen- tine von Porretta", fand er nichts Beifälliges, vielmehr erklärte er in seinen Literaturbriefen : „Das Ding, das Herr Wieland ein Trauerspiel nennt, ist ein verfehltes Produkt." Welchen Respekt übrigens Wieland vor Mendelssohn hatte, beweist schon der Umstand, daß er gegen die Äußerungen desselben öffentlich und brieflich nichts einzuwenden hatte, obschon er gegen andere aburteilende Kritiker, wie zum Beispiel gegen Gotthold Ephraim — 159 — Lessing, sich mit alier Kraft wehrte und nicht allein in seinen Briefen gegen sie räsonnierte, sondern auch in Repliken und Dupliken gegen sie öffentlich auftrat. Selbstverständlich befand sich unter denjenigen, die Wieland zu Beiträgen für den von ihm gegründeten „Teutschen Mer- kur'', dessen Redaktion er von 1773 bis 1789 führte, dringend einlud, auch Moses Mendelssohn. Um seiner Bitte noch be- sonderen Nachdruck zu geben, richtete er an ihn ein Schreiben, das schlagend bew^eist, wie sehr er dem großen Denker und Schriftsteller zugetan war: „Micht däucht," so heißt es in dieser Zuschrift unter anderem, „es würde mir um die Hälfte leichter ankommen, an Moses Mendelssohn zu schreiben, wenn wir einander nur eine Viertelstunde gesehen hätten. Und gleichviel bin ich unzufrieden mit mir selbst, daß es mir schwerer werden soll, weil wir uns nie gesehen haben. Kennt nicht einer des anderen besten Teil? Ist kein Verständnis zwischen unseren Seelen? Keine Sympathie zwischen unseren Herzen? Gehören wir nicht zu einer Klasse? Wo sollte man Freunde auf diesem Erdenrund suchen, wenn die von unserer Art es nicht wären? Es ist etwas in mir, das alle diese Fragen beantwortet. Meine Schüchternheit ist fort. Ich besorge keinen Augenblick mehr, daß Sie, bester Moses, bei diesem Briefe nicht empfinden sollten, was ich empfand, da ich ihn schrieb. Ich grüße Sie mit dem heiligen Namen der Freundschaft; mein Herz sagt mir, daß ich die Ihrige, daß Sie die meinige verdienen. Nun sage ich Ihnen nichts weiter über diesen Punkt, Sollten wir ein- ander nicht schon lange so gut kennen, um ohne Dolmetscher immer in des anderen Seele zu lesen? Ich sende Ihnen die An- zeige eines „Teutschen Merkur", den ich unternommen habe. Ich wage es nicht, einen Moses Mendelssohn um Beförderung meines Vorhabens, noch weniger um Übernahme eines so mechanischen Amtes, als das Amt eines Kollekteurs ist, zu er- suchen. Er wird jenes ungebeten tun und vielleicht auch dieses seiner nicht unwürdig halten, wenn er mein Vorhaben billigt. Aber wenn ich Sie, mein vortrefflicher Freund, bitten könnte, nur dann und wann (denn ich kann nicht unbescheiden sein), den „Teutschen Merkur" mit kleinen Beiträgen zu bereichern ! Wenige Blätter von Ihnen werden ihm einen so viel größeren Wert geben. Tun Sie es, bester Moses, machen Sie mich so — 160 — glücklich, wenn es anders ohne Ihre Beschwerde geschehen kann." Gern wäre Mendelssohn der Einladung Wielands zur Mit- arbeiterschaft gefolgt, aber seine schon damals tief erschütterte Gesundheit machte es ihm zu seinem Bedauern unmögHch, am „Teutschen Merkur" tätig zu sein. In dieser damals tonangebenden Zeitschrift finden wir gar manches anerkennende Wort über den Denker und Schrift- steller Moses Mendelssohn. Aus der Fülle der Auslassungen sei hier nur eine Abhandlung vom Jahre 1786: „Etwas über die ersten natürlichen Rechte des Menschen, nebst Anmerkungen über einige Aufsätze in Moses Mendelssohns Schrift Jeru- salem* " namhaft gemacht, worin den geistreichen Ausführungen des modernen Sokrates und seiner Bedeutung auf dem Ge- biete ider Philosophie besonderes Lob gezollt wird. So wird der „vortreffliche Phaedon" gerühmt und auf die Rechtstheorien Mendelssohns hingewiesen. Mendelssohn wird als Schöpfer einer vernünftigen Rechts- und Staatslehre gepriesen und auf Grund der in den philosophischen Schriften des Denkers entwickelten Anschauungen ein staatsrechtliches System zu begründen ge- sucht. Mendelssohn habe die Moral, die Ethik und das Gesetz zur Grundlage des Staates gemacht. Ebenso wird in einer in dem Jahrgang 1787 veröffent- lichten Artikelserie über die Kantsche Philosophie Moses Men- delssohn und seine Philosophie kritisch gewürdigt und ihre Bedeutung analysiert. Stets wird von Mendelssohn als von dem „berühmten" Weltweisen, dem erleuchteten Propheten der Vernunft und dem umfassenden Geist gesprochen. Speziell werden seine großen Verdienste betreffs der Religionserkennt- nis nachdrücklich betont. In dem Streit, den Mendelssohn mit Jakobi um den angeblichen Spinozismus Lessings führte, wird für den ersteren Partei genommen, obschon Jakobi zu den in- timsten Freunden Wielands zählte. Wieland hatte große Sehnsucht, Mendelssohn persönlich kennen zu lernen. Wiederholt trug er sich mit der Idee, ihn einmal in Berlin aufzusuchen, doch zerschlug sich dieselbe stets und so kam sie nie zur Ausführung. Wie sehr jedoch sein Herzenswunsch dahin ging, den von ihm so hoch verehrten Ge- lehrten und Menschen von Angesicht zu Angesicht zu sehen, er- -- 161 — sieht man schon aus einem Briefe von ihm an seinen Freund Jakobi. (Erfurt, 25. Januar 1771.) Dort schreibt er unter an- derem : „Warum konnte ich doch die Reise nach Berhn nicht mit den Freunden meines Geistes und Herzens, mit meinem Gleim und Jakobi mitmachen? In ihrer Gesellschaft Sulzern, Moses Mendelssohn und Ramlern kennen zu lernen! Ich gestehe Ihnen, daß ich nichts weniger als gleichgültig bei dem Beifall der beiden Letzteren bin, dessen sie mich in so lebhaften Aus- drücken versichern." Der Tod Mendelssohns erschütterte ihn aufs tiefste, denn er verehrte in ihm auch das Ideal eines vorurteilslosen und toleranten Aufklärers, der die Vernunft in all seinen Hand- lungen und in seinem ganzen Tun und Lassen sich zum Leit- stern gewählt hat, gerade wie er, dessen ganzes Sinnen und Trachten stets darauf ausging, die Menschen aufzuklären und sie dadurch zu verbessern und zu veredeln. Hat doch kein Geringe- rer wie unser Dichterfürst Goethe in der herrlichen Rede, die er in der Weimarer Loge Amalia unmittelbar nach dem Ab- leben Wielands gehalten hat, die Bedeutung des letzteren für den Humanismus mit den treffenden >)^orten gekennzeichnet: „Woher kam die große Wirkung, welche er auf die Deutschen ausübte? Sie war eine Folge der Tüchtigkeit und der Offen- heit seines Wesens. Mensch und Schriftsteller hatten sich in ihm ganz durchdrungen : er dichtete als ein Lebender und lebte dichtend. In Versen und Prosa verhehlte er niemals, was ihm augenblicklich zu Sinn, wie es ihm jedesmal zumute sei, und so schrieb er auch urteilend und urteilte schreibend. Aus der Fruchtbarkeit seines Geistes entquoll die Fruchtbarkeit seiner Feder .... Da nun bei ihm der Mann und der Dichter eine Person ausmachten, so werden wir, wenn wir von Jenem reden, auch Diesen zugleich schildern. Reizbarkeit und Beweg- lichkeit, Begleiterinnen dichterischer und rednerischer Talente, beherrschten ihn in einem hohen Grade; aber eine mehr ange- bildete als angeborene Mäßigung hielt ihm das Gleichgewicht. Unser Freund war des Enthusiasmus im höchsten Grade fähig .... Er war nicht zum Parteihaupt geschaffen, wer die Mäßigung als Hauptmaxim anerkennt, darf sich keiner Ein^ seitigkeit schuldig machen. Was seinen regen Geist aufreizte, suchte er durch Menschenverstand und Geschmack bei sich selbst Kohut, Gekrönte und ungekrönte Judenfreundc. 11 — 162 — ins Gleiche zu bringen .... Nur in dem, was der Mensch tut, zu tun fortfährt, worauf er beharrt, darin zeigt er Charakter; und in diesem Sinne hat es keinen festern, sich selbst immer gleichern Mann gegeben als Wieland. Wenn er sich der Man- nigfaltigkeit seiner Empfindungen, der Beweglichkeit seiner Ge- danken überließ, keinem einzelnen Eindruck Herrschaft über sich erlauben wollte, so zeigte er eben dadurch die Festigkeit und Sicherheit seines Sinnes. Der geistreiche Mann spielte gern mit seinen Meinungen, aber niemals mit seinen Gesinnungen." i Johann Gottfried von Herder. Die Humanität des 18. Jahrhunderts ist ohne das Wirken Herders garnicht zu verstehen; er bildet neben Lessing den Mittelpunkt all jener edlen und erlösenden Humanitätsbestre- bungen, jener sittlichen Kämpfe für die Menschenrechte, für die Gleichstellung aller Konfessionen in Deutschland, die, von Frank- reich und England ausgehend, auch die größten deutschen Geister mächtig ergriffen. Da sich jedoch der ganze Emanzipations- und Humanitätskampf des 18, Saeculums in dem Kardinalpunkt der sogenannten „Judenfrage" konzentrierte, erscheint uns der geistreiche Gelehrte und tiefsinnige Verfasser von dem „Geist der ebräischen Poesie", der „Stimmen der Völker in Liedern", der „Briefe zur Förderung der Humanität", der „Ideen zur Ge- schichte der Menschheit" und zahlreicher anderer bahnbrechender Werke als einer der erfolgreichsten und kühnsten Bannerträger des Humanitätsideals in Deutschland im 18. Jahrhundert. Wenn der Grundgedanke der Goetheschen Weltanschauung die ästhetische Schönheit und der Kerngedanke aller Schiller- schen Dichtungen und Schriften die sittliche Vollkommenheit ist, so ist der Maßstab, den Herder an die gesamte intellektuelle Welt anlegt, der der Humanität, der Menschlichkeit. Durch alle seine Schriften zieht sich wie ein roter Faden diese Lebens- und Weltansicht. Im zweiten Teil seiner: „Ideen zur Geschichte der Menschheit" spricht er sich über diesen Punkt folgendermaßen aus : „Wenn wir die Menschheit betrachten, wie wir sie kennen, nach den Gesetzen, die in ihr liegen, so finden wir nichts höheres, als die Humanität im Menschen ; denn wenn wir uns Götter oder Engel denken, denken wir sie uns auch nur als höhere idealische Menschen .... Die Humanität ist die ver- schlossene Knospe der wahren Gestalt der Menschen. Derselben — 164 — nachzuforschen ist die echte menschHche Philosophie, die jener Weise vom Himmel rief, und die sich im Umgange, wie in der Politik, in den Künsten, wie in allen Wissenschaften offenbart. Diese Humanität muß aber erst entwickelt und entfaltet werden, denn sie ist uns nur in Anlagen angeboren und muß uns eigent- lich angebildet werden. Wir bringen sie nicht fertig auf die Welt mit, auf der Welt aber soll sie das Ziel unseres Strebens, die Summe unserer Erkenntnis, unser Wert sein : Denn eine Angelität im Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert, kein Humanitätsdämon ist, werden wir Plage- geister der Menschen. Das göttliche in unserm Oe- schlechte ist also die Bildung zur Humanität. Die Humanität ist der Schutz und die Ausbeute aller unserer Be- mühungen, gleichsam die Kunst unseres Geschlechts. Die Bil- dung zu ihr ist ein Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß oder wir sinken, höhere oder niedere Stände, zur rohen Tierheit, zur Brutalität zurück!" Ist es zu verwundern, daß ein so erleuchteter, keine Vor- urteile und vorgefaßten Meinungen kennender kühner Geist diese seine Anschauungen auch für die Juden geltend zu machen suchte? Ist es nicht natürlich, daß der Prediger des Gotteswortes, dessen reines Herz für das Wohl des ganzen Menschengeschlechts so warm schlug, auch die Juden „das ausgezeichnetste Volk der Erde", wie er sie selber nennt, mit der ganzen Energie seines Geistes und dem ganzen Scharfsinn seiner glänzenden Dialektik verteidigt? Wie verhaßt, wie ver- abscheut ihm vor allem religiöse Verfolgungen waren, beweisen zahlreiche Stellen in seinen Schriften. Aus der Fülle derselben sei nur ein Passus aus seinem schon erwähnten Buch: „Ideen" etc. hervorgehoben, wo er unter anderem bemerkt: „Von Kindheit auf ist mir nichts abscheulicher gewesen^ als Verfolgung und persönliche Beschimpfung eines Menschen über seine Religion. Wen gehet diese als ihn selbst und Gott an? Ja, wer weiß nicht, was an dem Worte „Religion", so- bald es innere Überzeugung und Gefühl betrifft, für diese Skrupel und Schwierigkeiten haften ? Dem ist dieses, einem andern jenes aufs innigste anstößig, zu diesem Ausdrucke kann er sich nicht gewöhnen, von jener frühgefaßten Vor- stellungsart auf keine Weise sondern. An ihr hängen seine — 165 — moralischen Begriffe, an ihr vielleicht seine vornehmste Trieb- feder, ja, sein Ideal der Moralität selbst. Dieser findet Zweifel, wo keiner sie findet; die schwarze phantastische Fliege ver- folgt ihn, ohne daß ein anderer, als er sie siehet. Wie grau- sam ist's also, wie unvernünftig, wie nutzlos und unmenschlich, wenn sich ein Mensch, ein Gericht, eine Synagoge das Verdam- mungs- und das Verfolgungsurteil über die Religion eines andern, und sei es auch eines Indiers oder Negers anmaßt! Der Dank der Menschheit gebührt allen denen, die diese unerträglichen Lasten und Fesseln abschüttelten, die jede unziemliche Beschimp- fung, jede kränkende Verfolgung in ihr wahres Licht stellten. Die Rache für solche Verfolgungen ist nie ausgeblieben ; es wäre aber endlich Zeit, daß wir aus besseren Gründen, als aus bloßer Furcht vor Rache zum Gefühl der Wahrheit und Menschlichkeit gelangten !" Welch hohe Meinung Herder von den zu seiner Zeit noch vielfach so sehr verachteten und verhöhnten Kindern Israels hatte, zeigt sein oft erwähnter Ausspruch über den israelitischen Stamm. Er befindet sich in seinen „Ideen" etc. und lautet wörtlich : „Israel war und ist das ausgezeichnetste Volk der Erde; in seinem Ursprung und Fortleben bis auf den heutigen Tag, in seinem Glück und Unglück, in Fehlern und Vorzügen, in seiner Niedrigkeit und Hoheit, so einzig, so sonderbar, daß ich die Ge- schichte, die Art, die Existenz dieses Volkes für den ausge- machtesten Beweis der Wunder und Schriften halte, die wir von ihm haben und wissen. So etwas läßt sich nicht erdichten; eine solche Geschichte mit allem, was daran hängt und davon ab- hängt, kurz, ein solches Volk läßt sich nicht erlügen. Seine noch unvollendete Führung ist das größte Poem der Zeiten und geht wahrscheinlich bis zur Entwicklung des letzten noch unberührten Knotens aller Erdennationen hinaus Dieses sonderbarste Volk hat die sonderbarsten Bücher; ein Volk, dessen Religion und Geschichte ganz von Gott abhängt, hat auch Bücher der Art, des Geistes; jene Dinge sind aus diesen, diese aus jenen entstanden, aber alles ist im Grunde nur eins : ein Gepräge, ein Charakter, eine Beurkundung aller Zeiten, ihr Name ist das Volk Gottes, wie dort von Ezechiels Stadt und Tempel." — 166 — Mit der ihn auszeichnenden rastlosen Tatkraft und der zündenden und hinreißenden Beredtsamkeit, die seine Seele durch- glühte, war er bestrebt, in Wort und Schrift für die Verbesserung der traurigen, namenlos elenden sozialen Stellung Israels in jener Zeit zu wirken. Er gab die Parole der „Judenemanzi- pation" aus, und mit dem ungestümen Feuer, das seinem Genius eigen war, predigte er diesen seinen Glaubensartikel auf der Kanzel sowohl wie in seinen Schriften. In einem Kapitel sei- nes Werkes „Adrastea'*, welches die Überschrift: „Über die Be- kehrung der Juden" trägt, hält er seinen Zeitgenossen ein gar scharfgeschliffenes Spiegelbild ihres Verhaltens den Juden gegen- über vor. Dort heißt es u. a. : „Alle Gesetze, die den Juden ärger als Vieh achten, ihm nicht über den Weg trauen und ihn damit täglich, ja stündlich ehrlos schelten, sie zeugen von der fortwährenden Barbarei des Staates, der aus barbarischen Zeiten solche Gesetze duldet. Montesquien hat Recht, daß die ehemalige Barbarei in Europa zum Verderbnis des jüdischen Stammes und Charakters durch ein gewalttätiges und häßliches Benehmen gegen das jüdische Volk mit beigetragen hat, welches wir ihm der Geschichte zu- folge nicht ableugnen können ; daher ist es der Europäer Pflicht, die Schuld ihrer Vorfahren zu vergüten und die durch sie ehrlos wurden, der Ehre wiede- rum fähig und wert zu machen." Trotz der vielen Hindernisse und Schwierigkeiten, die sich Herder in seinem Kampfe bei der Hinwegräumung des unge- heuren tausendjährigen Schuttes der mannigfachsten und absur- desten Vorurteile entg^enstellten, ließ er sich in seiner Tätigkeit nicht beirren. Alle Verleumdungen und Verdächtigungen der Feinde prallten an dem reinen blanken Schild dieses makellosen und gefeierten Namens wirkungslos ab. Schonungslos trat er so manchen boshaften und giftigen Behauptungen entgegen, die damals ebenso wie heute gegen den israelitischen Stamm er- hoben wurden. Gegen die Unterstellung zum Beispiel, daß die Israeliten nach Alleinherrschaft in Handel und Gewerbe strebten, kämpfte er mit folgenden Worten an : „Laßt die Christen ihr Gewerbe so gut verstehen als die Juden das ihrige, laßt christ- liche Familien und Gesellschaften einander so beistehen, als es die Juden zu tun gewohnt sind : Wer wird den Preis vor den — 167 — anderen erjagen, Juden oder Christen?** Doch wollte er nicht allein das Judentum verteidigen, sondern er trachtete auch danach, ihm eine bessere Würdigung im Urteil der Zeitgenossen angedeihen zu lassen. So sagt er, daß der Jude ein schärferer Ehrenrichter sei, als der Christ, denn diesen drücke gewöhnlich die Würde seiner Vorgesetzten und der höheren Stände wie Blei und Eisen zu Boden, daß er kaum aufrecht stehen, ge- schweige denn sehen könne, indem von Kindheit auf seine Be- griffe von Stand und Ehre verschoben und irre gemacht werden. Nicht so der Jude. Da er auf keine Würden im Staate An- spruch machen könne, wohl aber mit allen Ständen verkehre, so lerne er alles schätzen und wahren Wert vom falschen ge- wiß sichten. Herder rühmt ferner den Wohltätigkeitssinn der Juden, er spricht auch von ihrem hellen, von keinem Vorurteil befangenen politischen Blick mit ebensolcher Anerkennung, wie von ihrem eminenten theologischen und philosophischen Scharfblick. „Meint Ihr nicht," sagt er, „daß, wenn statt des Marquis d'Argens ein Jude wie Nathan jüdische Briefe geschrieben hätte, diese in Vielen eindringlicher, scharfsinniger, selbst wahrer gewesen wären, als die jetzt übrigens schätzbaren „lettres juives"*) sein können?" — „Wer," fragt er weiter, „übertraf Spinoza an Konsequenz, die er in sein System der Moral und Politik, ja auch der Theologie brachte? Einen Orobio, Pinto, so manche trefflichen Aussprüche und Parabeln der Rabbinen, die sich auf die feinsten Bemerkungen gründen, wird irgend ein Verständiger sie ohne Achtung lesen? Dem Pöbel der Schriftsteller zwar waren oft die sinnreichsten Parabeln aus Haß und Verkehrtheit bald lächerlich, bald verächtlich. Warum aber? Weil er in ihnen den Sinn nicht faßte und sich an die oft kindisch scheinende Einkleidung mutwillig hielt." Wie Herder dem Charakter des israelitischen Stammes ge- recht zu werden bemüht war, so rühmte er auch seine große Intelligenz und seine seltene Begabung auf den mannigfachsten *) Die »Lettres juives« des am 24. Juni 1704 geborenen philosophischen Schriftstellers Marquis d'Argens erschienen im Haag 1742 und erregten außer- ordentliches Aufsehen. — 168 — Gebieten der Wissenschaft, Literatur, Industrie, Volks- und Land- wirtschaft etc. In der geschichtlichen Betrachtung des Volkes Israel zeigt Herder nicht allein einen unbefangenen, vorurteilslosen Blick, sondern auch den ganzen Zartsinn und die wohltuende Wärme seines Gemüts und seiner innigen Frömmigkeit. In seinem schon erwähnten Meisterwerk: „Vom Geist der ebräischen Poesie" werden die größten und ehrwürdigsten Gestalten des israe- litischen Stammes, wie z. B. diejenige des Moses, von ihm in pietätvollster Weise und mit dem ganzen Zauber seiner sprach- lichen Meisterschaft geschildert. Aus der Fülle dieser Be- trachtungen über den Gesetzgeber Israels mögen nur die nach- stehenden Auslassungen hier wiedergegeben werden : „Sein erster Entwurf, dem Ewigen einen Altar von Feld- steinen aufzurichten imd ihm von der Erstgeburt des Landes, als dem Familiengotte, dienen zu lassen, war das Reinste und Erhabenste, das bei einem Nationalgottesdienste stattfand, und das die Propheten mit geistigerem Glänze für die zukünftige Zeit nur ausmalen. Als er dem sinnlichen, rebellischen Volke, das durchaus ein Kalb wollte, nachgeben mußte, wie rein durch- dacht war seine Stiftshütte, das Zelt des Gesetzgebers unter ziehenden Zelten ! — Die Idee des AUerheiligsten, mit seinem unzugangbaren Dunkel, mit der bloßen Gesetztafel, die er unter den Flügeln des Symbols der Geheimnisse verwahrte, ist so simpeleinfach, daß nichts geändert, nichts hinzugetan werden kann, ohne daß sie entweiht und erniedrigt würde. Sein Hei- ligstes hatte nichts als die Schaubrote, das Symbol der ältesten Familienopfer, die nur Gastmahle wären. Hier stand das ein- fachste Gastmahl vor den Augen des Jehova, und vor ihm brannte der siebenarmige Leuchter, sein Blick in alle Welt; und vor ihm duftete der goldene Rauchaltar die süßen Opfer der Spezereien, Symbol der Gebete aus den frühesten Zeiten. Weiter enthielt sein eigentlicher Tempel nichts." Die hebräische Poesie, wie sie sich in den heiligen Schriften kundgibt, nach allen Richtungen hin dem Verständnis der Zeit- genossen aufzuschließen, erachtete Herder als den schönsten Beruf seines Lebens. Man kann sagen, daß er das „H o h e Lied Salomonis" gleichsam wieder entdeckte, indem er zuerst den damals gebräuchlichen seltsamen allegorischen Auslegungen — 169 — gegenüber den poetisch-lyrischen Charakter dieser dichterischen Schöpfung ins klare Licht gesetzt hat. Gegen den Wust von törichten Deutungen erhob er sich, um den buchstäblichen und natürlichen Sinn, von der sich jeder unbefangene und des Orientalischen kundige Leser bei der Lektüre des „Hohen Liedes" von selbst überzeugen kann, wieder herzustellen. Diese köstliche hebräische Dichtung betrachtete er als eine Blumenlese und als eine ausgewählte Perlenschnur in der Masse der Liebeslieder wie sie seit Salomons Zeiten in dem Munde des Volkes zu finden waren. Vielleicht sind es auch — wie Herder ausführt — die Überreste von Hochzeitsliedern, wie diese in Wechsel- chören an den Brautfesten gesungen wurden. Vom ersten Kuß bis zum letzten Seufzer wird hier die Liebe besungen, einfach und natürlich, bald feurig, bald schmachtend — alles in lieb- licher Unschuld — , so sinnig und minnig, daß nur der heuch- lerischen Entartung und dem unreinen Sinn diese Blume, aus der die Weisheit Honig zieht, zum Oifte werden kann. Ent- schieden hat Herder durch seine Übersetzung und Erklärung einer verständigen Behandlung des „Hohen Liedes" Bahn ge- brochen und dasselbe erst wieder menschlich zu lesen gelehrt. In den „Klageliedern Jeremiae" erkennt Herder die schönste Frucht der hebräischen Elegie. Er vernimmt hier den sanften, schwermütigen Ton eines in tiefe Betrübnis versinken- den Patrioten. Er unterläßt es nicht, auf die ergreifende Schön- heit der tragischen Bilder, wie auch auf die Mäßigung und Haltung, die sie an sich tragen, hinzuweisen, selbst wenn der Jammer des mütterlichen Herzens oder der trostlose Zustand des Gefangenen geschildert wird. „Wie eine Turteltaube", sagt er, „hört man über dem Grabe des Tempels und Landes die Elegie girren. Wie eine edle und gefesselte Sklavin sehnt sie sich zurück in die Gegenden der Würde und Freiheit. Keine Nation hat schönere Stücke dieser Art. Aber keine Nation hat auch so viel verloren und empfunden als die hebräische, ohne dabei den kindlichen Trost der Zukunftshoffnung aufzugeben." Er reiht diese Klagelieder unter die edelsten Klassen der Elegie, die patriotischen. Wo immer er auch den Prophetismus der Hebräer berührt, versteht er stets die nationale Herrlichkeit und die religiöse Kraft desselben in einer begeisternden Weise zu entwickeln. — 170 — Auch die übrigen Propheten und Sänger Israels verherr- licht Herder in schwungvollen Worten. „Welchen Dichter Grie- chenlands und Roms", ruft er seinen mit der heidnisch-klassischen Poesie Abgötterei treibenden Zeitgenossen zu, „wagen wir in Ansehung der erhabenen Moral und des umfassenden National- geistes neben einen Jesaias zu stellen?" Dieser Prophet ist seiner Überzeugung nach der größte, originellste und gedanken- reichste unter den großen Propheten : „Er ist der Adler mit dem Sonnenblick und ätherischen Schwung." Das Lied Debo- r a h s hält er für das beste pindarische Heldenlied, das die Welt kennt, worin Poesie, Musik und Tanz in schönster Harmonie sich vereinigen. Vom Buche „Koheleth" sagt er in den „Briefen das Studium der Theologie betreffend" u. a. : „Kein Buch ist mir aus dem Altertum bekannt, das die Summe des menschlichen Lebens, seine Abwechselungen und Nichtigkeiten, in Geschäften, Entwürfen, Spekulationen und Vergnügungen zugleich mit dem, was einzig in ihm wahr, dauernd, fortgehend und lohnend ist, reicher, ausdrücklicher und kürzer beschreibt als dieses. Ein Königswerk!" Wie für die Bibel, so hatte Herder auch für die rabbi- nische Literatur — Talmud und Midrasch — eine aufrichtige Hochachtung und Verehrung. Aus den herrlichen Parabeln, allegorischen Legenden und Gedankenblüten, die auf den Feldern des rabbinischen Schrifttums in üppiger Fülle blühen, flocht er einen gar lieblichen Blumenstrauß, dem er den Titel gab: „Blätter der Vorzeit". Wir würden gern einige dieser Parabeln und allegorischen Legenden in der Herderschen Verdeutschung und Umarbeitung hier mitteilen. Allein es fehlt uns der Raum, Sie sind so wunder- voll, daß sie es wahrlich wert sind, der unverdienten Ver- gessenheit entrissen zu werden. Wie Herder in Prosa die rabbinischen Sagen und Legenden in deutschem Gewände meisterhaft wieder zu beleben wußte, so war er auch im Vers ein Übersetzungskünstler, und seine metrischen Übertragungen aus der Bibel legen aufs neue von dieser Virtuosität in der Handhabung der Sprache ein be- redtes Zeugnis ab. Seine Übersetzungen der Psalmen z. B. sind ebenso geschmackvoll wie verständnisinnig, und verdienen — 171 — noch heute Beachtung. Es sei mir erlaubt, auf Geratewohl nur e i n Beispiel anzuführen, freilich keineswegs das beste, wohl aber das kürzeste. Der Psalm 23 lautet in der Herder- schen Verdeutschung also: „Mein Gott, der ist mein Hirt, Wo ich geh' und steh; Wo er mich führt, wie er mich führt. Was fehlt mir je? Jetzt ruh', jetzt lager' ich mich Am Bach der Au: Auf grünender Au, am kühlen Bach Im Morgentau. Dann weckt, dann führt er mich Mit neuem Mut, Richtigen We^s, sichern Stegs Zu neuem Gut. Und auch im Tal der Nacht — Warum furcht' ich mich? Meines Hirten Stab, meines Hirten Stab Der tröstet mich. Und hinter Grauen und Nacht, Im dunkeln Tal, Siehe da stehet. Feinde, da stehet Mein Freudenmahl! Siehet, Freudenöles träuft .^ Mein lockigt Haar! Becher du schwebst, Becher du schäumst Als trunken gar. Gut Heil, gut Heil wird stets. Stets um mich sein. Freudig und satt geh' ich alsdann Walhall' hinein. Was die Stellung Herders zu einzelnen hervorragenden Israe- liten seiner Zeit betrifft, so muß hier in erster Linie seiner — 172 — Beziehungen zu Moses Mendelssohn gedacht werden. Er blickte mit Bewunderung zu dem um 15 Jahre älteren „mo- dernen Sokrates", dem ebenso milden wie scharfsinnigen Denker, empor. Jemehr bei dem größten Popular-Philosophen des 18. Jahrhunderts die scharfe Logik, der kritische Verstand, die eindringende Analyse vorwiegend war, desto mehr fühlte sich der phantasiereiche, nach höchster Vollendung strebende Herder zu ihm hingezogen. Bevor er Mendelssohn noch persönlich kennen gelernt, schwärmte er bereits für ihn. Als Jüngling schon begeisterte er sich für den Verfasser von „Phaedon" und der „Morgenstunden**, weil Mendelssohn ebenso wie Lessing, „hell an Geist und rein im Herzen", nur die reine Wahrheit suchte und wollte, wie er in seinen „Zerstreuten Blättern" bemerkt. Speziell der „Phaedon" ver- setzte ihn in einen Rausch der Begeisterung; er betrachtete diese philosophische Schöpfung als ein für die Menschheit, die Gesellschaft, den Staat und die Philosophie überaus wichtiges Werk, wie er seinem Freund, dem Buchhändler und Schrift- steller Friedrich Nicolai, schreibt. Kein Mensch in der Welt meinte er, könne den „Phaedon" mit mehr Genuß und mit mehr Herz und Seele gelesen haben als er. Dem Wunsche seines Herzens folgend, beschloß Herder, mit dem Verfasser in brieflichen Verkehr zu treten. Im April 1769 setzte er sich mit ihm in schriftliche Verbindung, und das freundliche Entgegen- kommen des gefeierten Philosophen trug noch wesentlich dazu bei, in der Seele Herders die Liebe und Sympathie für Mendels- sohn zu erhöhen. Die zwei Schriftsteller tauschten seitdem ihre Werke gegenseitig aus. Der seit jener Zeit fortgesetzte rege Briefwechsel zwischen ihnen enthält eine Fülle der an- regendsten Ideen und Beobachtungen. Wie diese Korrespon- denz beschaffen war, mag man schon aus dem Schreiben Herders vom 10. Oktober 177Q ersehen, als er dem Denker „Das Buch von der Zukunft des Herrn" übersandte: „Verzeihen Sie, hochgeschätzter Herr, daß ich Sie mit diesem christlichen Buch beschwere. Es geschieht nicht, Sie zu bekehren, noch mir von Ihnen als Kunstrichter ein gnädiges Urteil zu erkaufen. Ich übergebe es dem rechtschaffenen Israe- liten, den ich von Herzen hochschätze, als ein Zeichen meiner Hochachtung, und als ein Buch in seiner Sprache, in den — 173 — Bildern seiner Propheten und Lehrer geschrieben. Sie kön- nen, mein Herr, der beste Richter sein, ob die Bilder, rein und klar, das bedeuten, was ich sie bedeuten lasse, und ob ich den Zusammenhang des Buches, der aber auch aus den Ideen Ihrer Nation ist, getroffen. Was bei uns in diesem Fach kahle, leicht zu verdeutelnde, weit hergeholte Gelehrsamkeit ist, ist bei Ihnen, wie mich dünkt, angenommene heilige Sprache. Nehmen Sie das Buch in dieser reinen stillen Absicht, als von einer guten Hand gegeben, auf, setzen Sie sich beim Lesen in meine, eines christlichen, Lehrers Stelle und verbinden mich etwa, wenn Sie's wert finden, einmal im Stillen mit Ihrer un- parteiischen Meinung. Wenn man die Schrift auch nicht etwa als Weissagung, sondern als Gedächtnis und Trost der Zerstörung Israels betrachtet, ist sie, dünkt mich, recht unschätzbar. Mir indessen schien sie auf ihrer Stelle und alles zusammen ge- nommen mehr zu sein, wenigstens fand ich nicht Ursache genug, sie meiner Kirche bloß als jenes zu geben. Ich verbinde in- dessen niemand zu meiner Meinung. Leben Sie herzlich wohl nach Seel* und Leib.*' Es liegt auf der Hand, daß sich die beiden Denker nicht allein über theologische und literarische Angelegenheiten, son- dern auch über die Frage der bürgerlichen Stellung der Israe- liten in jener Zeit hier und da unterhielten. Bezeichnend in dieser Beziehung ist namentlich ein Brief Mendelssohns vom 20. Juni 1780. Der bittere Humor, der sich in diesem Schreiben ausspricht, beweist schlagend, wie schmerzlich die Herab- setzung und unwürdige Behandlung, denen damals noch seine Glaubensgenossen in Deutschland ausgesetzt waren, den Philosophen von Dessau berührt haben. In dieser noch heutzutage — leider — recht aktuellen Zuschrift heißt es unter anderem : „Ich habe Kinder, die ich erziehen soll. Zu welcher Be- stimmung? Ob im Sachsen-Gothaischen bei jeder Durchreise ihren jüdischen Kopf mit einem Würfelspiel zu verzollen oder irgend einem kleinen Satrapen das Märchen von den nicht zu unterscheidenden Ringen zu erzählen, weiß nur der, der uns alle unsere Pfade vorgemessen. Meine Pflicht ist es, sie so zu erziehen, daß sie in jeder Situation sich von ihrer Seit« keine — 174 — Schande zuziehen, und die ihnen ihre Nebenmenschen unverdient zuwerfen, mit Resignation ertragen." Besonders rege gestaltete sich der briefliche Verkehr zwi- schen Herder und Mendelssohn seit dem Tode des gemein- schaftlichen Genossen Gotthold Ephraim Lessing. Nicht ohne tiefe Bewegung lesen wir noch jetzt den Brief, welchen der evangeHsche Geistliche an den israelitischen Kaufmann an- läßHch jenes schmerzlichen Verlustes richtete: „Lassen Sie sich," heißt es dort, „Heber Mendelssohn, er- bitten, gewissermaßen seinen Platz in mir auszufüllen, und mir etwas näher zu sein, als Sie es sind .... Ihre Gutmütigkeit, Ihr unverhohlenes Wohlwollen in Sachen, wo wir doch einerlei Zwecl: im großen und ganzen, wenn auch in so verschiedenen Sphären, zu befördern haben, dies wünsche, dies erbitte ich mir, da ich Sie so innig und aufrichtig hochschätze und liebe und mit jedem Jahr des Lebens lieber gewinne." Der Appell Herders verhallte nicht fruchtlos: „Auch dieses, mein bester Herder," so schreibt ihm Men- delssohn am 15. März 1781 *) „ist ein Weg der Vorsehung, daß Lessings Tod zwei Gemüter sich einander näherbringen !muß . . . Der Tod Lessings! der einzige Mann, an dem ich in mehr als 30 Jahren von dieser — weltklugen — Gesinnung wahrgenommen, der so allezeit ungeteilten Herzens, ganz sich selbst gleich — mein Freund und Wohltäter blieb! Der Tod dieses Freundes, mit dem ich zu leben gleichsam gewohnt war, hat in meinem Herzen eine tiefe Wunde geschlagen, und es ist ein wahres Labsal für meine Seele, daß Sie eine gleiche Lücke in Ihrem Herzen empfinden und solche durch die Annäherung mit dem meinigen wieder auszufüllen gedenken. Haben Sie herzlichen Dank dafür, daß Sie den ersten Schritt getan ! Sie sollen mich sicherlich auf halbem Wege treffen. Ich gehe etwas langsam, aber ununterbrochen. Jeder hat seine Weise, und ich habe das Zutrauen zu Ihrer Menschenkenntnis, daß Sie meine kaltscheinende Weise nicht mißkennen werden. Sie ist in Wahrheit mehr gemäßigt als kalt, und Sie werden sie hoffentlich in der Folge der Zeit immer echter und bewährter und Ihrer Liebe würdiger finden . . . Ich hoffe, es soll bei •) Aus Herders Nachlaß, Band 2, S. 220ff. — 175 — diesem ersten Schritt, den wir zur Freundschaft getan, nicht bleiben, und verspreche Ihnen, allezeit so offenherzig zu sein, als Sie mich jetzt finden. Ich kann Ihnen auf der Laufbahn, auf der Sie so große Schritte getan, nicht folgen, aber ohne Neid kann ich Ihnen meinen herzlichen Beifall zurufen, so oft Sie ihn zu verdienen scheinen. Lieben Sie mich, Brüder- chen!" Es bietet einen wahren Genuß dar, dem Ideenaustausch zwischen Mendelssohn und Herder zu folgen. Aus einem Briefe des ersteren vom 18. Mai 1781 erfahren wir, daß er gewillt war, über „Lessings Charakter" einen Aufsatz zu schreiben, und man kann es nur lebhaft bedauern, daß er sein Vorhaben nicht ausgeführt hat — es wäre gewiß das beste gewesen, was je über Lessing veröffentlicht wurde. Als der sonderbare Heilige, der Prediger Lavater, in törichter Weise eine gedruckte Aufforderung an Mendelssohn erließ, um diesen zu „bekehren" und sein Seelenheil zu retten, war Herder über das taktlose und fanatische Vorgehen des Judenmissionars sehr ungehalten. Er erklärte Lavater für einen verblendeten Enthusiasten und Fanatiker, und es ist wohl auf seine, Herders, Initiative mit zurückzuführen, daß Lavater Men- delssohn um Verzeihung bat, mit der Begründung, „daß er den unrechten Weg eingeschlagen habe, um zu zeigen, wie er ihn liebe und hochschätze, und sein Glück in der gegenwärtigen und zukünftigen Welt innigst wünsche." Überaus angenehm berührte es Mendelssohn, daß Herder in einem Briefe vom 4. Mai 1781 der Schrift „Jerusalem", welche ein Jahr vorher erschienen war, warme Anerkennung zollte. In seinem Dankschreiben gibt Mendelssohn seiner Freude hierüber lebhaften Ausdruck, indem er hervorhebt, daß die Versicherung Herders ihm mehr als ein leeres Kompliment dünke und ihm als reicher Ersatz erscheine „für alle schale Kritik und alles noch schalere Lob, womit die gewöhnlichen Rezensenten diese arme Broschüre verfolgen." Wenn er nur seinen zwei Freunden Herder und Garve nicht mißfalle, so sei seine Eigenliebe schon voll befriedigt. Daß Herder seinem Freunde Mendelssohn zu Danke ver- pflichtet war, liegt auf der Hand, denn die Einwirkung des — 176 — letzteren nicht allein auf die theologische Weitanschauung des vveimarischen christlichen Geistlichen, sondern auch auf seine Exegese und seine Kenntnis des Hebräischen und der rabbinischen Literatur ist in den Schriften Herders klar nach- zuweisen. Ohne die Pentateuch-, Psalmen- und Koheletüber- setzung Mendelssohns wäre jedenfalls das Wissen Herders von der Bibel kein so umfangreiches und gründhches gewesen, wie es in der Tat der Fall war. Deshalb hat auch keiner der christlichen Zeitgenossen des Philosophen die klassische Ver- deutschung der heiligen Schrift durch Moses Mendelssohn mit größerer Wärme begrüßt als der Theologe von Weimar. In seinen „Theologischen Briefen" rühmt dieser den Kommentar zu „Koheleth", indem er auf die Klarheit und Durchsichtigkeit des Ausdrucks, die philosophische Tiefe, gepaart mit religiöser Wärme, welche der Arbeit einen eigentümlichen Zauber ver- leihen, hinweist, so daß er „den ehrerbietigen, philosophischen Ton des Kommentars, rücksichtlich der klaren und fließenden Darstellung, der unter den Kommentaren nicht viel seines Gleichen hat, manchen christlichen Auslegern" wünscht. Noch auf seinem Totenbette beschäftigte übrigens den ster- benden Herder der Kommentar Mendelssohns; daneben war es der Prophet J e s a i a s , aus dem er seelischen Trost schöpfte. Bezeichnend hierfür ist eine wahrheitsgemäße Anekdote. Die Mutter des Sterbenden, die Witwe eines Schullehrers in Mohrungen (Ostpreußen), hatte einst an ihren zärtlich geliebten, sechsund- zwanzigjährigen Sohn, als er sich auf Reisen befand, die folgenden Worte geschrieben : „Mein liebes Kind! Du machst mir manche wehe Stunden. Wenn ich aufwache und an Dich denke, so ist der Schlaf weg, und kann doch nicht mehr tun, als Dich dem großen Gott empfehlen, er wolle seinen Engeln Befehl tun, daß sie Dich auf den Händen tragen und ich habe das starke Zutrauen zu ihm, er werde mein Flehen nicht lassen umsonst sein. Ich wünsche Dir auf Deiner Reise die Worte Jesaias, Kapitel 43, Vers 1, 2 4 Der Herr wolle diese Worte tief in Dein Herz^ schreiben." Eine Nacht vor seinem Tode — am 17. Dezember 1803 — , als er sich voll Schmerzen auf seinem Krankenlager unruhig hin- und herwälzte, ließ er sich eine Bibel geben, und al& — 177 — er sie aufschlug, bekam er gerade die eben erwähnte Stelle des Jesaias zu Gesicht. Obschon seitdem viele Jahrzehnte verstrichen waren, erinnerte er sich doch sogleich des hier angeführten Briefes seiner geliebten Mutter. Die Rührung übermannte ihn, dann aber fühlte er sich außerordentlich erleichtert, und sein Gemüt erheiterte sich, so daß er zu den beiden ihn behandeln- den Ärzten, die ihn am Morgen seines Todestages besuchten, scherzend sagen konnte: „Ich habe heute Nacht in der Bibel Trost gefunden : Eure Wasser- und Feuerkur wird mir nichts schaden." Die Literatur- und Kulturgeschichte, sowie die Biographie großer Männer darf aber keine Schönfärberei treiben und der Grundsatz der Gerechtigkeit und Wahrheit muß über alles gehen. Deshalb soll hier nicht unerwähnt bleiben, daß selbst ein so großer und edler Mensch wie Herder sich von den Vorurteilen seiner Zeit nicht ganz frei zu machen w^ßte und nicht immer die Begabung besaß, seine liberalen Theorien in die Praxis umzusetzen. Während er in seinen Briefen einen so liebens- würdigen, freundschaftlichen und herzlichen Ton anzuschlagen wußte, war er im persönlichen Umgang mit Mendelssohn, be- sonders als der Verkehr zwischen beiden coram publico, das heißt vor dem „p. t. Publikum und dem hochzuverehrenden Adel," vor sich ging, zugeknöpft, kühl, ich möchte beinahe sagen, beleidigend unnahbar. Er kehrte den evangelischen Kir- chenfürsten gar zu sehr heraus und vergaß keinen Augenblick, daß dieser weltberühmte jüdische Philosoph, Denker, Gelehrte und Schriftsteller ihm gesellschaftlich nicht ebenbürtig, sondern nur ein schlichter, einfacher Kaufmann ohne Titel und Würden war. Dies zeigte sich ganz besonders grell anläßlich des Zu- sammentreffens der beiden im Bade Pyrmont. Herder, der da- mals Hofprediger in Bückeburg war, erschien im Gefolge des regierenden Grafen von Schaumburg-Lippe. Er konnte es mit seiner Würde nicht vereinen, bei seinen Begegnungen mit Mendelssohn diesem gegenüber jene Wärme der freundschaft- lichen Gefühle imd Empfindungen zu erwidern, die den mo- dernen Sokrates für ihn beseelte, und die dieser von Herder mit Fug und Recht erwarten durfte. Ich will gewiß nicht Herders Gebahren rechtfertigen, möchte aber darauf hinweisen, daß in der Seele dieses Dichters Kohut, Gekrönte und ungekrönte Judenfreunde. 12 — 178 — neben großen glänzenden, gleichsam fascinierenden Eigenschaften, auch Schwächen und selbstische Triebfedern lebten. Zu den letzteren gehörten der Neid und die Mißgunst, welche nicht wenig dazu beigetragen haben, ihn auch anderen Qeistesheroen wie Klopstock, Schiller und Goethe zu entfremden. Später freilich sah Herder ein, daß er sich Mendelssohn gegenüber eine arge Blöße gegeben und bat ihn um Verzeihung. In den feinironischen, aber milden und geistvollen Worten vom 15. März 1781, womit Mendelssohn das damalige eng- herzige, ja beschränkte Benehmen Herders beleuchtet, prägt sich in wundervoller Weise das herrliche Charakterbild des Ver- fassers des „Phaedon" aus. Mendelssohn verzieh Herder alles, als dieser ihn mit einem trefflichen Artikel, den er in Wielands Zeitschrift „Merkur" dem gemeinsamen Freunde Lessing widmete, angenehm über- raschte. Mit wahrhaft überschwenglicher Dankbarkeit quittierte Mendelssohn über dieses würdige literarische Denkmal, dem großen Genius errichtet. Der Tod des alten Freundes erschütterte Herder aufs tiefste. In einem Briefe, den er um jene Zeit an den Philosophen Jakobi schrieb, gibt er seinem Schmerz über das unerwartete jähe Ableben Mendelssohns beredten Ausdruck. Schon bei der Nachricht von der Erkrankung des Philosophen urteilt er in einem Schreiben an den Genannten: „Deutschland verliert immer in ästhetischem und philosophischem Fach in ihm den ersten Denker." Es kann nicht meine Absicht sein, den Einfluß, welchen Herder auf die moderne Exegese ausgeübt hat, zu übertreiben, denn gar manches, was er geschrieben und als das Ergebnis einer mathematisch - wahren, kritischen Forschung hingestellt, ist längst veraltet, widerlegt und überholt, aber trotz alledem darf sein unsterbliches Verdienst, welches er sich um das bib- lische Studium und die Bibelkritik erworben, nicht geleugnet werden. Seine Anschauungsweise ist vielfach die herrschende und maßgebende geblieben und sein ganzes Auftreten muß als der Anfang einer neuen Zeitepoche in der alttestamentarischen Bibel-Hermeneutik bezeichnet werden. Seine geistreiche und feine Art wirkte namentlich auf die Jugend, aber auch viele — 179 — bedeutende Gelehrte nahmen gern und dankbar an seinen For- schungen teil. Ich erwähne hier nur den Dr. Ludwig Philippson, der vor 80 Jahren — im November 1833 — in Magdeburg, v/ohin er als Prediger berufen worden war, einen Zyklus von Vorlesungen über „die fortschreitende Entwicklung der Menschheit" hielt, die jene Grundsätze erweiterten, welche er, gerade gestützt auf Herder, als das wahre Gesetz der Geschichte erkannt hatte und denen er stets treu anhing. 12' Ludwig Uhland. Nur wenige Jahre war es Ludwig Uhland beschieden, seine akademische Laufbahn zu verfolgen. Man vv^eiß, daß der akademische Senat in Tübingen den berühmtesten schwäbischen Dichter des vorigen Jahrhunderts und den ausgezeichneten ger- manischen Forscher, dessen 1822 erschienene grundlegende Schrift über Walther von der Vogelweide und andere Arbeiten ihn mit einem Schlage in die Reihe der ersten deutschen Ger- manisten gestellt hatten, zu einer außerordentlichen Professur der deutschen Sprache vorgeschlagen hat. Die württembergische Regierung besann sich aber volle anderthalb Jahre, denn der schneidige und gesinnungstüchtige Freiheitssänger, der stramme Demokrat, war ihr nichts weniger als eine persona grata. End- lich erfolgte seine Ernennung, und 1830 nach den Osterferien begann er in Tübingen seine Vorlesungen im größten akade- mischen Hörsaal „über die Geschichte der deutschen Poesie im XIIL bis XIV. Jahrhundert". Trotzdem er als Dozent große Erfolge erzielte und obschon er, wie alles im Leben, mit dem größten Eifer auch die akademische Karriere anfaßte, so war doch sein Lehramt an der Universität schon im Herbste 1832 zu Ende. Ludwig Uhland hatte nämlich nicht Urlaub erhalten, um seinen Sitz in der der schwäbischen Regierung Opposition machenden Kammer einzunehmen, infolgedessen er seinen Ab- schied nahm, welcher ihm am 22. November 1832 vom Mi- nister Schlayer „sehr gern" erteilt wurde. Diese kurzen drei Jahre gehörten zu der angenehmsten Er- innerung des großen Dichters und edlen Menschen, und noch als Greis sprach er sehr gern mit seinen Freunden über jene schöne Zeit, welche er im Kreise seiner zahlreichen Schüler ver- lebte. Ludwig Uhland las nicht frei, alle seine Manuskripte waren sorgfältig ausgearbeitet, und er dozierte mit kräftiger — 182 — und markiger Stimme. Einer seiner Schüler, Dr. Klüpfel, be- richtet uns, daß er sein Bestes gab, weil er sich mit ganzer Seele in den Stoff der germanistischen Forschung, welche er seit seiner frühesten Jugend mit Begeisterung trieb, vertieft hatte. Das, was er vortrug, war nicht ein zum Behuf der Vor- lesung im Drange des täglichen Bedürfnisses niedergeschriebenes Heft, sondern die Frucht vieljähriger Arbeit. Wie sehr er die Studenten zu begeistern wußte, beweist schon die eine Tat- sache, daß er gleich nach der ersten Vorlesung durch einen stattlichen Fackelzug und ein Ständchen geehrt wurde. Von den Schülern Uhlands, die insgesamt mit Verehrung an ihm hingen, haben sich mehrere literarisch, im Beruf oder sonst im öffentlichen Leben, einen geachteten Namen erworben. Mögen hier einige derselben angeführt werden. Zuvörderst seien die Professoren Adelbert v. Keller, Franz Pfeiffer und Wilhelm Ludwig Holland genannt. Dieselben haben sich durch die Herausgabe von „Uhlands Schriften zur Ge- schichte der Dichtung und Sage" (acht Bände, Stuttgart 1865 bis 1873) um die Manen ihres Meisters sowohl wie um die germanische Wissenschaft ein hohes Verdienst erworben. Doch nicht allein Germanisten von Fach waren Schüler Uhlands, son- dern auch Juristen, Theologen, Philosophen, Mediziner usw. So war z. B. der Dichter und Kriminalist Chr. Reinhold Köstlin, der als Professor der Rechte in Tübingen am 14. September 1856 starb, ein Jünger Uhlands. Kein Geringerer, wie der berühmte Philosoph Eduard Z e 1 1 e r gehörte gleichfalls zu den Schülern Uhlands ; an eine Arbeit des ersteren : „Über den Standpunkt der altgriechischen Kunst'' knüpfte der letztere eine sehr interessante, kunstgeschicht- liche Betrachtung, wenn er z. B. „das sinnige Auge" rühmt, womit der Verfasser seinen Gegenstand betrachtet habe. Zu den Zuhörern des Professors Ludwig Uhland gehörten u. a. noch: Ludwig Georgii, Hermann Reuchlin, Adolf Helfferich, Wagner von Lauffenburg, Albert Schott und die Dichter Eduard Mörike, Gustav Pfizer, Hermann Kurz und Karl Fetzer. Einer der Lieblingsschüler Uhlands war der stud. theol. W. Wassermann, später Kirchenrat und geadelter Oberrabbiner in Stuttgart. Durch die Freundlichkeit desselben bin ich schon — 183 — vor Jahrzehnten in den Besitz der beiden nachstehend abgedruckten Briefe Ludwig Uhlands gelangt, welche beweisen, wie gern der Dichter jener Jahre der Dozentenzeit eingedenk war. Dieselben lauten : „Entschuldigen Sie, hochgeehrter Herr Doktor, die ver- spätete Zurückgabe Ihrer freundlichen Mitteilung. Es hatten sich gleichzeitig sechs poetische Manuskripte auf meinem Tische zu- sammengefunden. Möchten nur auch die anderen alle mich gleich angesprochen haben oder noch ansprechen können, wie das Ihrige. Durch das bemerkte Zusammentreffen hat sich mir freiUch die Erfahrung bestätigt, daß die Kritik in diesen Gebieten seit ge- geraumer Zeit vorzugsweise dem germanischen Altertum zuge- wandten Studien sehr fern liegt. Um einem neuen Erzeugnis im Fache der schönen Literatur seine Stellung richtig anweisen zu können, muß man mit dem gegenwärtigen Stande derselben im ganzen näher bekannt sein, als dies bei mir der Fall ist. Ihre Erzählung hat, nach meinem Bedünken, Naturgemälde und Sittenschilderungen aus dem Orient, so daß, was den Stil betrifft, die Spruchrede und, ohne Überladung, auch die Bildersprache des Morgenlandes, mit den Vorgängen des inneren Lebens zu wirksamem Qesamteindruck verbunden. Dazu stimmt auch die gewählte Form, daß der Erzähler das Wort an seine Pflege- tochter richtet; nur in dem Abschnitt erscheint dies mißlich, welcher den Fehltritt der Mutter schildert. Ich bin mit Mo- hammeds geschichtlichem Charakter zu wenig vertraut, um vor- aussetzen zu können, welchen Gang Ihre Darstellung fortan nehmen wird, aber gewiß eröffnet sich ihr ein weites Feld be- deutungsvoller Entwicklungen eines gewaltigen Geistes und der von ihm hervorgerufenen Volksgeschichte. Mit freundschaftlicher Hochachtung Ihr ergebenster Tübingen, 21. Dezember 1855. L. U h 1 a n d. Hochgeehrter Herr Doktor! Seit Empfang Ihres schätzbaren Geschenkes drängten sich bei mir verschiedenartige Abhaltungen, die mir den stillen Ge- nuß einer größeren poetischen Arbeit nicht gestatten wollten. Doch kenne ich ja den edlen Geist Ihrer nunmehr zum Abschluß gebrachten Dichtung schon aus der früheren, teilweisen Mit- — 184 — teilung und darf es jetzt nicht länger anstehen lassen, noch vor dem für nächsten Monat beabsichtigten Antritt einer Reise, Ihnen für die werte Gabe selbst und für die sehr freundlichen Zeilen, mit denen Sie dieselben begleitet haben, meinen herz- lichsten Dank auszudrücken. Bei einer Rückerinnerung an jene wenigen Jahre, die ich dem akademischen Lehrberufe widmen konnte, werden mir die jugendlichen Geister lebhaft gegenwärtig, mit denen ich damals in nähere Berührung kam, und welche, wie sie mannigfach begabt waren, nachher auch in so vielge- teilte Lebensbahnen eingetreten sind. Zeichen einer fortdauern- den Anhänglichkeit haben mich schon öfters erfreut, mag ich sie auch zunächst dem unerloschenen Andenken an die freie, fröhliche Studienzeit zu verdanken haben. Bewahren auch Sie, geehrtester Herr Doktor, mir ferner- hin die freundschaftliche Gesinnung, von der mir eben jetzt ein schöner Beweis zugegangen ist. Hochschätzend Ihr ergebenster Tübingen, 31. Juli 1859. L. U bland. Zur näheren Erläuterung dieser beiden Zuschriften sei fol- gendes bemerkt. Wassermann war schüchtern bei der Ver- öffentlichung von Geistesprodukten und wandte sich daher, als er sich, nachdem das nonum prematur in annum längst vorüber war und er sich entschloß, seinen Roman aus dem israeUtischen Leben der Vergangenheit: „Die Mädchen von Chaibar" her- auszugeben, unter Zusendung des Manuskripts einer größeren Episode daraus an seinen einstigen Lehrer mit der Bitte, ihm wie damals bei seinen Arbeiten während seiner Studienzeit ein strenges Urteil über deren Wert zukommen zu lassen. Darauf erfolgte die obige Antwort Uhlands. Dennoch zögerte der Ver- fasser lange, und erst später erschien der Roman unter dem Pseudonym „Orientalis'' im Metzlerschen Verlage in Stuttgart. Eines der ersten Exemplare, über welches der Autor zu verfügen hatte, sandte er an Uhland, und dieser gab die oben mitge- teilte liebenswürdige Antwort. Wilhelm Hauff. Das gemütliche Land Schwaben hat in der Vergangenheit sowohl in politischer wie in konfessioneller Beziehung gar manches Ungemütliche aufzuweisen; ich nenne nur die „Fürsten- gruft" auf Hohenasperg und die Hinrichtung des württember- gischen Finanzministers Josef Süß Oppenheimer, genannt „Jud Süß**. Auch die Dichtergrößen Schwabens haben hin und wieder einen merkwürdigen Judenhaß bekundet, der mit ihren sonstigen freiheitlichen Anschauungen in krassem Widerspruch stand. So- gar der herrliche Sänger der Freiheit und der Menschenwürde, der unsterbüche Dichterfürst Schiller, der doch wahrlich selbst unter der Zuchtrute des Herzogs Karl Eugen von Württemberg so viel zu leiden hatte, war nicht ganz ohne Vorurteile gegen das Judentum, und er hat in seinen Schriften und Briefen gar manches über Israel niedergeschrieben, was seines gewaltigen Genius nicht wert war. Der Typus des Schwaben in Literatur und Dichtung ist nach dieser Richtung hin der berühmte Erzähler Wilhelm Hauff. Obschon ihm nur eine kurze Lebensspanne hier auf Erden vergönnt war — er starb bereits am 18. November 1827, noch nicht ganz 25 Jahre alt — hat er doch die deutsche Nationalliteratur mit einigen köstlichen Gaben seines Geistes be- reichert. Seine Schöpfungen zeichnen sich durch Originalität, reiche und frische Erfindungsgabe, zündenden Humor, eine seltene Kunst des Erzählens und eine erstaunliche Mannigfaltigkeit aus. Als Novellist, Romanzier, Märchendichter, Satiriker, Kritiker und teil- weise auch als Lyriker nimmt er einen Ehrenplatz auf unserem Parnaß ein. Gewiß hätte er noch Größeres und Bleibenderes geleistet, wenn der Sensenmann ihn nicht frühzeitig in der Blüte seines Lebens gefällt hätte. — 186 — Jung, wie er war, noch nicht zur vollen Reife des Genius gelangt, nicht gewohnt, an alte Traditionen und Vorurteile die Sonde der Kritik anzulegen und seinem satirischen Orund- charakter die Zügel schießen lassend, betrachtete er das Judentum als ein dankbares Objekt für Spott und Parodie. So machen wir denn die charakteristische Wahrnehmung, daß Wilhelm Hauff fast überall, wo er auf Juden und Jüdinnen, Bibel und Talmud, die Lehre, den Glauben und die Lebens- und Weltanschauung des jüdischen Volks zu sprechen kommt, einen solchen Mangel an Objektivität bekundet, daß er keine wahrheitsmäßigen Federzeichnungen, sondern nur Karikaturen zum Besten gibt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind ja auch die Schwaben aufgeklärter geworden, und ihre Abneigung gegen die Juden hat viel von ihrer Schärfe verloren, wie wir dies ja bei David Friedrich Strauß und den Führern der Tü- binger Schule sehen, die sich im Großen und Ganzen mit red- lichem Eifer bemühten, auch dem Judentum gerecht zu werden; aber noch in der ersten Hälfte des vorigen Säkulums war es in dieser Beziehung schlimm bestellt. Gewiß ist der Dichter in seinen poetischen Werken nicht an die streng-geschichtliche Wahrheit gebunden, und er kann um die Ereignisse der Vergangenheit und um die in die Be- gebenheiten mit mehr oder weniger Nachdruck eingreifenden Personen den Schleier der Maja, das heißt der Phantasie und der phantastischen Erfindung, hüllen, aber was Wilhelm Hauff in Bezug auf Wahrheit und Dichtung geleistet hat, übersteigt hie und da die Grenzen des Erlaubten. Greifen wir aus der Fülle seiner Erzählungen nur einige markante Stellen heraus, welche für die ganze Art und Weise dieses Autors, Juden und Judentum zu behandeln, in hohem Grade charakteristisch ist. Wilhelm Hauff ist als Märchenerzähler mit Recht be- kannt und gefeiert. Viele dieser Märchen spielen im Orient, speziell in der Türkei, und beschäftigen sich auch mit den Juden. Leider hat der Verfasser für die edlen und lichtvollen Seiten derselben weder Sinn noch Empfindung, vielmehr sind für ihn — 187 — die dortigen Kaufleute nichts als Schwindler, Betrüger, Wucherer und Halsabschneider. So lautet eines seiner Märchen : „Abner, der Jude, der nichts gesehen hat.'* Dieser Abner lebte in Marokko unter der Herrschaft des Sultans Muley Ismael. Er wird vom Dichter mit den Worten geschildert: „Pfiffig, mit Falkenaugen für den kleinsten Vorteil begabt, verschlagen wie sie alle, und desto verschlagener, je mehr sie mißhandelt werden, ihrer Verschlagenheit sich be- wußt und sich etwas darauf einbildend." Ich unterlasse es, das Märchen selbst zu erzählen, dessen Tendenz darauf hinausläuft, zu zeigen, daß auch ein Jude zu Schaden kommen könne. Ich erwähne nur, daß der Verfasser mit sichtlichem Behagen all die abscheulichen Bru- talitäten einer zügellosen Soldateska und eines wahnwitzigen Despotismus erzählt, ohne auch nur im Geringsten seiner Entrüstung über die schändlichen Orgien Ausdruck zu ver- leihen. Ohne jedoch es selber zu wollen, spottet er der eigenen Engherzigkeit, denn er endet seine Geschichte von „Abner, der Jude, der nichts gesehen hat", mit den Worten, welche indirekt das härteste Verdammungsurteil über die Verfolger Israels nicht allein in Fez und Marokko, sondern auch in allen anderen Ländern und allen Zeiten enthalten : „Im Reiche Fez und Marokko liebt man schnelle Gerechtig- keit, und so wurde der arme Abner geprügelt und besteuert, ohne daß man ihn zuvor um seine Einwilligung befragt hätte. Er aber verfluchte sein Geschick, das ihn dazu verdammte, daß seine Sohlen und sein Beutel es hart empfinden sollten, so oft Seine Majestät geruhten etwas zu verlieren. Als er aber brum- mend und seufzend unter dem Gelächter des rohen Hofvolks aus dem Saale hinkte, sprach zu ihm Schnuri, der Spaßmacher: „Gib dich zufrieden, Abner, undankbarer Abner, ist es nicht Ehre genug für dich, daß jeder Verlust, den unser gnädiger Kaiser, den Gott erhalte, erleidet, auch dir empfindlichen Kum- mer verursachen muß? Versprichst du mir aber ein gut Trink- geld, so komme ich jedesmal eine Stunde, bevor der Herr des Westens etwas verliert, an deine Bude in der Judengasse und spreche : „Gehe nicht aus deiner Hütte, Abner, du weißt — 188 — schon warum, schließe dich ein in dein Kämmerlein bis zu Sonnenuntergang, beides unter Schloß und Riegel." Wie in jener Zeit Jude und Reichtum identische Begriffe waren, so auch bei Wilhelm Hauff. Man lese zu diesem Zwecke nur das Kapitel in seinen „Memoiren des Satan", betitelt: „Mein Besuch in Frankfurt", worin er über den Frankfurter Rothschild und die jüdischen Börsenmatadore eine ganze Schale voll Spott ausschüttet. In einer „pantomimischen Vorstellung mit Begleitung des Orchesters" läßt er die Geldmakler von London, Berlin und Frankfurt am Main ein pas de deux tanzen und sagt dann wörtlich: „Plötzlich ging die lamentable Börsenmusik in einen Triumphmarsch über. Die herrliche Passage aus der Italienerin in Algier: Heil dem großen Klimakau ertönte. Ein glänzender Zug von Christensklaven, Goldbarren und Schüsseln mit gemünztem Gold tragend, tanzten aufs Theater. Acht Fi- nanzminister berühmter Könige und Kaiser trugen auf ihre Schultern eine Art von Triumphwagen, der die transparente Inschrift: „Seid umschlungen MilHonen" trug. Ein Herr mit einer pikanten morgenländischen Physiognomie, wohlbeleibt und von etwas schwammigem Ansehen, saß in dem Wagen und stellte den Trimphator vor. Mit ungemeinem Applaus wurde er begrüßt, als er von den Schultern der Minister herab auf den Boden stieg. „Das ist Rothschild, es lebe Rothschild!" schrie man in den ersten Ranglogen und klatschte und rief Bravo, daß das Haus zitterte." Rothschild gibt in einer komischen Solopartie seinem Reich, der Börse, den Frieden, und der erste Akt der großen Panto- mime endigt mit einem brillanten Schlußchor, in welchem er förmlich gekrönt und zu einem allerhöchsten eher cousin ge- macht wird .... „Während zur Zeit des Königs David alle Juden nur einen König hatten, haben jetzt — 1826 — alle Könige nur einen Juden." Aber in einigen Einzelheiten seiner poetischen Schöpfungen, z. B. in den „Unterhaltungen des Satan und des ewigen Juden in Berlin", wird der Spötter trotz aller seiner Sarkasmen gewisser- maßen von einem Strahl der Erleuchtung durchglüht, indem er dem ewigen Juden gar manche bittere Wahrheiten über lächer- liche Torheiten und Auswüchse jener Zeit in den Mund legt. — 189 — Wie amüsant sind nicht z. B. die satirischen Bemerkungen des ewigen Juden über den damals in Deutschland herrschenden chinesischen Zopf ! Nicht übel sind auch seine Karikaturen der Töchter reicher Emporkömmlinge, die in den 20er Jahren des vorigen Jahrhun- derts, um christliche adelige oder reiche Männer mit Titeln hei- raten zu können, in leichtherziger Weise den Glauben ihrer Väter „changierten'' und statt wahrer Herzensbildung eine aus Büchern mühsam zusammengelesene, oberflächliche Bildung für die Be- dürfnisse des Salons sich aneigneten, um damit bei jeder pas- senden und unpassenden Gelegenheit Staat zu machen. Wie eine blutige Ironie auf die Kreise der Berliner Salonperiode klingt die nachstehende Schilderung der Tochter eines süd- deutschen Börsenmatadors — die natürlich „Rebeckchen'' heißen muß — in den „Memoiren des Satan'*. Der Graf Rebs, ein alter Roue, und der junge Herr Zer- tarner aus Dessau, der um die Hand der reichen Erbin an- hält, unterhalten sich über Rebeckchen Simon — ihr Vater wohnt in der neuen Judenstraße zu Frankfurt a. M., das große gelbe Haus neben dem Herrn von Rothschild und be- sitzt eine Million — in folgender geschmackvollen Weise: „Wie, sollte es möglich sein, eine junge Dame sollte so sehr nach Geld sehen?" „Da kennen Sie die Mädchen, wie sie heutzutage sind, schlecht. Titel oder Geld, Geld oder Titel, das ist es, was sie wollen. Können sie sich durch einen Leutnant zur gnädigen Frau machen lassen, so ist es ihnen eben recht; hat ein Mann wie ich Geld, so wiegt das den Adel zur Not auf, weil derselbe gewöhnlich keines hat." „Und haben Sie keinen sonstigen Rival?" „O, einige Judenjünglinge, bedeutende Häuser buhlen um sie, aber ihr Sinn steht nach einem soliden Christen. Sie weiß, daß bei uns alles freier und nobler geht als bei ihrem Volk und schämt sich in guter Gesellschaft, für eine Jüdin zu gelten. Daher hat sie sich auch den Frankfurter Dialekt ganz abge- wöhnt und spricht preußisch. Sie sollten hören, wie schön es klingt, wenn sie sagt: „Ißt es möchlich" oder „es jinge wol, aber es jeht nich." — 190 — „Das gebildete Judenfräulein" war, nach dem Konterfei W. Hauffs, „graziös, das heißt geziert, sie war artig, ziemUch kokett, sie war naiv, Andere hätten es lüstern genannt." Und nun ihr Sprechen! „Ich hebe die Tiplomattiker," sagte sie zu einem Pseudo- diplomaten mit feinem Lächeln und vielsagendem Blick. „Es ist so etwas Feines, Jewandtes in ihren Manieren. Man sieht ihnen den Mann von jutem Geschmack schon von ferne an, und wie angenehm riechen sie nach Eau de Portugal!" „Da haben Sie einen herrlichen Shawl angelegt, mein Fräu- lein, ist er wohl echt?" fragte sie der s. g. Diplomat. „Ah, jehen Sie doch," erwidert sie ihm, „meinen Sie, ich werde etwas anderes anziehen, als was nich janz echt ist? Der Shawl hat mir gekostet 800 Gulden, die ich in die Rothschild- schen Loose gewunnen. Und sehen Sie, dieses Kollier hat ge- kostet 1600 Gulden und dieser Ring 2000. Ja, man jeht sehr echt in Frankfort, das heißt Leute von dem juten Ton wie unser Eine." „Ach, was haben Sie doch für eine schöne, gebildete Sprache, mein Fräulein! Wurden Sie etwa in Berlin erzogen?" „Finden Sie das ooch? Ja, man hat mir schon oft das Kompliment vorjemacht. Nee, in Berlin drein war ich nie, ich bin hier erzogen worden; aber es macht, ich lese viel und bilde auf die Art meinen Jeist und mein Orkan aus." „Was lesen Sie, wenn man fragen darf?" „Nu, Belletres-Bücher von die schöne Jeister. I bin Abon- nent bei Herrn Döring in der Sandjasse, nächst der weißen Schlange, und der verproviantiert mich mit Almanachs und Romancher." „Lesen Sie Goethe, Schiller, Tieck und dergleichen?" „Nee, das tu ich nich. Diese Herrn machen schlechte Je- schäfte in Frankfort. Es will sie keen Mensch, sie sind zu stu- diert, nich natürlich jenung. Nee, den Jöthe les' ich nie wieder! Ich werde rot, wenn ich nur daran denke .... Wer mein Liebling ist, das ist der Clauren. Nee, dieses Leben, diese Farben, dieses Studium des Herzens und namentlich des weib- lichen Jemüts, ach, es is was Herrliches! Und dabei so na- türlich ! Wenn mir die Anderen alle vorkommen wie schwere vierhändige Sonaten mit tiefen Baßpartien, mit zierHchen Solos, — 191 — mit Trillern, die kein Mensch nich verstehen und spielen kann, sowie der Mozart, der Haydn, so kommt mir der Clauren accurat so vor wie ein anjenehmer Walzer, wie ein Hoppswalzer oder Galopp. Ach, das Tanzen kommt Eenem in die Beene, wenn man den liest. Es ist etwas Herrliches!" W. Hauff hat auch die tragische Geschichte vom Glück und Ende des Juden Süß Oppenheimer, des unglücklichen württembergischen Finanzkünstlers, in einer höchst spannenden Novelle behandelt. Ich habe schon an einer anderen Stelle *) auf die vielen Schwächen dieser Erzählung, welche keineswegs sine et studio geschrieben ist, hingewiesen. Die in „Jud Süß" vielfach beliebte Verdrehung, Entstellung, sogar Fälschung der geschichtlichen Tatsachen ist um so beklagenswerter, als der Autor als Schwabe sehr wohl Gelegenheit gehabt hätte, ernste und gewissenhafte historische Forschungen anzustellen und statt eines Pasquills uns ein naturgetreues kulturgeschichtliches Bild aus dem Jahre 1737 zu liefern. Einigermaßen versöhnend wirkt in diesem Gewirr von phantastischen Verleumdungen und Anklagen die vom Dichter geschaffene Figur der jungen, schönen Lea, der Schwester des Süß Oppenheimer, die mit rührender Liebe und Treue an dem unglücklichen Bruder hängt. Der Dichter hat sie mit dem ganzen Zauber und Liebreiz einer echten Tochter Zions aus- •gestattet. Er schildert ihr Äußeres mit den Worten: „Man konnte ihr Gesicht die Vollendung ihrer orientalischen Züge nennen. Dieses Ebenmaß in den feingeschnittenen Zügen, diese wundervollen dunklen Augen, beschattet von langen seidenen rWimpern, diese kühngewölbten schwarzen Brauen und die dunklen Locken, die in so angenehmem Kontrast um die weiße Stirn und den schönen Hals fielen, und den Vereinigungspunkt dieser lieblichen Züge, zarte rote Lippen und die zierlichsten weißen Zähne, noch mehr hervorhoben," Nur einmal, am Schluß seiner Erzählung, macht Wilhelm Hauff den Versuch, die entsetzlichen Greuel, die bei der Hin- richtung von „Jud Süß" stattfanden, gerecht und objektiv zu kennzeichnen. Diese Worte, welche einigermaßen versöhnend wirken, mögen auch diese Skizze versöhnend beschließen : •) Vergleiche meine »Geschichte der deutschen Juden < und »Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur« Jahrgang 1902, — 192 — „Sie hingen ihn — Jud Süß — an einem ungeheuren Galgen von Eisen in einem eisernen Käfig auf. Im Dekret des Herzog-Administrators heißt es : „Ihme zu wohlverdienter Straff, jedermänniglich aber zum abscheulichen Exempel," Bei- des, die Art, wie dieser unglückliche Mann mit Württemberg verfahren konnte, und seine Strafe sind gleich auffallend und unbegreiflich zu einer Zeit, wo man schon längst die Anfänge der Zivilisation und Aufklärung hinter sich gelassen, und die Blüte der französischen Literatur mit unwiderstehlicher Gewalt den gebildeten Teil Europas aufwärts riß. Man wäre versucht, das damalige Württemberg der schmählichsten Barbarei anzuklagen, wenn nicht ein Umstand einträte, den Männer, die zu jener Zeit gelebt haben, oft wiederholen und der, wenn er auch die Tat nicht rechtfertigt, doch ihre Notwendigkeit darzutun scheint. „Er mußte/* sagen sie, „nicht sowohl für seine eigenen schweren Verbrechen, als für die Schandtaten und Pläne mäch- tiger Männer am Galgen sterben." Verwandtschaften, Ansehen, heimliche Versprechungen retteten die Anderen, den Juden — konnte und mochte Niemand retten, und so schrieb man, wie sich der alte Landschaftskonsulent Lanbeck ausdrückte, „was die Übrigen verzehrt hatten, auf seine Zech e." Graf Leo Tolstoi. Was der im Jahre 1911 im 83. Lebensjahre verstorbene große russische Dichter, Schriftsteller und Moral-Philosoph, Graf Leo Tolstoi, für die Aufklärung und Bildung der Russen getan, welchen Anteil seine Werke an dem Aufblühen der russischen National- einer- und der Weltliteratur anderseits genommen und welch' hohe ethische Ziele er angestrebt, ist allgemein bekannt und bedarf wohl keiner weiteren Aus- führung. Im Leben von der orthodoxen Kirche Rußlands ex- kommuniziert, verhaßt und verfolgt und von den Reaktionären in aller Herren Ländern verfehmt und beschimpft, feiert er jetzt, seitdem an seinem Grabe der Parteien Hader verstummte, gleich- sam eine Auferstehung als ein Prophet des Guten, Schönen und Edlen, als ein Humanitätsfreund ersten Ranges, dessen ganzes Tun und Trachten, Wirken und Schaffen der Verwirklichung der Ideale geweiht war, die in ihm lebten. Wir dürfen nicht vergessen, daß Graf Leo Tolstoi während seiner ganzen lite- rarischen Tätigkeit fortwährend mit feurigen beredten Zungen Menschenliebe und Duldung predigte. Jede Anfeindung und Gehässigkeit eines Menschen seiner Religion oder seiner Na- tionalität wegen war ihm in der tiefsten Seele zuwider. Allen denen, die im modernen so judenfeindlichen Rußland an dem Fortschritt der Humanität und der Gerechtigkeit verzweifelten, rief er im Nachwort seiner „Kreuzer-Sonate'* das Wort zu: „Falsch ist, daß das Ideal unendlicher Vollkommenheit für das Leben nicht als Leitstern dienen könne und daß uns nichts übrig bleibt, als entweder uns achselzuckend abzuwenden mit Worten: Es ist mir nutzlos, da ich es doch niemals erreichen kann, oder das Ideal bis zu der Stufe zu erniedrigen, welche meine Schwach- heit einzunehmen beliebt. So zu denken wäre ganz dasselbe, als wenn ein Seefahrer sich sagen würde: Da ich nicht in der Kohut, Oekrönte und ungekrönte Judenfreund«. 13 — 194 — Richtung fahren kann, welche mein Kompaß anzeigt, so werfe ich den Kompaß beiseite oder sehe ihn nicht mehr an, d. h. verwerfe das Ideal oder ich befestige die Magnetnadel an der Stelle, welche in einem bestimmten Augenblick dem Gang meines Schiffes entspricht, d. h. ich erniedrige das Ideal meiner Schwach- heit entsprechend." Leo Tolstoi zählte zu den wenigen großen öffentlichen Charakteren Rußlands, die sich gegen die schmachvollen Pogrome gegen die Juden, wie sie von den „echt russischen Leuten" in so grausamer Weise in Szene gesetzt wurden, aussprachen. In seiner berühmten Kampfschrift: „Ich kann nicht schweigen", gab er zwar nicht so sehr seiner Entrüstung über die Pogrome als über die Massenhinrichtungen in Rußland Ausdruck, aber indem er die Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten aufs schärfste verurteilte, brandmarkte er, wenn auch nur indirekt, zugleich auch die ruchlosen Judenmetzeleien und Abschlachtungen. Das Leiden des jüdischen Volkes in seinem Vaterlande ging ihm ans Herz, und er stigmatisierte das verbrecherische Treiben der Antisemiten, die unter dem Deckmantel des Christentums die rohesten und barbarischsten Taten vollzogen und die Re- ligion des Stifters der christlichen Kirche schändeten. Er ver- abscheute die gesetzlichen Wohnungseinschränkungen der Juden im Ghetto, dem Staate das Recht absprechend, die Juden gleich Parias zu behandeln und ihre Menschenwürde mit Füßen zu treten. Von seinem freiheitHchen Standpunkte aus sympathi- sierte er sogar mit der zionistischen Bewegung, und zwar aus dem Grunde, weil diese kühn die Fahne der Freiheit entrollte und weil ihm jede Begeisterung für nationale und religiöse Interessen als ein Beweis des Strebens und Ringens nach den idealen Gütern der Menschheit hochwillkommen war. Wenn es ihm auch nicht gelang, seinen jüdisch-russischen Mitbürgern staatsbürgerliche Menschenrechte zu erwirken und die russischen Machthaber zu veranlassen. Recht und Gerechtigkeit in Sachen der Juden zu üben, so hat er doch wenigstens vor den Augen des gebildeten Europvas die intellektuellen Anstifter der Pogrome als ruchlose Missetäter hingestellt und so den Mördern einen moralischen Fußtritt versetzt, von dem sie sich nicht mehr er- holen konnten. Auch darf wohl ausgesprochen werden, daß ohne die Sympathien des großen Tolstoi, dem die russische Regierung — 195 — nie wagte, einen Prozeß anzuhängen, das Los der russischen Israeliten sich noch schHmmer als bisher gestaltet hätte. Graf Leo Tolstoi hatte schon von Jugend auf großes In- teresse für das Alte Testament und widmete sich längere Zeit dem Studium des Hebräischen. Er war ein Kenner der Bibel. Er vervollkommnete seine Kenntnisse der hebräischen Sprache und Literatur bei dem Warschauer Rabbiner Minor, ja, er soll selbst den Talmud und die Kabbala in der Ursprache gelesen und in beiden tüchtig Bescheid gewußt haben. Doch steht diese Annahme nicht fest. So soll er einem ihm befreundeten Rab- biner, als dieser ihn besuchte, gesagt haben, daß er es lebhaft bedaure, nicht in den Geist der hebräischen Sprache tiefer ein- gedrungen zu sein. Daß er, wie gesagt, im Alten Testament sehr belesen war, dafür legen viele seiner Schriften, speziell seine Romane, No- vellen und Dramen, beredtes Zeugnis ab. In seinem Bestreben, das Ur-Christentum in seiner vollen Reinheit und Wahrheit her- zustellen, mußte er sich bald davon überzeugen, daß dasselbe die Lehre „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst" dem Alten Testament entnommen hat. Die schlichte Auslegung des heiligen Buches des jüdischen Volkes gab ihm die Gewißheit, daß aus diesem reinen Quell nicht nur die wahre Religion, sondern auch die wahre Moral und Ethik stets in ihrer vollen Frische hervorsprudle. Welchen Einfluß das Studium des Alten Testaments auf die religiöse und sittliche Lebens- und Weltanschauung dieses Denkers ausgeübt hat, das bekunden unter anderem seine Bücher: „Mein Bekenntnis*', „Was sollen wir denn tun" und „Über das Leben". Ganz im Sinne und im Geist der Bibel forderte er von den Christen im Namen des einigen und einzigen Gottes der Juden Liebe und Menschlichkeit. Die Christen müßten ihren Egoismus töten und für andere sich opfern. Was jetzt als Christentum der „echt russischen Leute" gelte, sei oft nichts als ein Hohn auf die Lehren des Ur-Christentums. Wer je das Glück hatte, den Grafen Leo Tolstoi auf seinem Erbgute Jasnaja Poljana aufzusuchen, wird mit Interesse wahrgenommen haben, daß in seiner Bücherei das Alte Testa- ment in der Ursprache in den verschiedensten Ausgaben vor- 13* — 196 — banden war und daß auch der Talmud Bawli und Jeruschalmi sowie die Kabbala nicht fehlten. Auf seinem Schreibtische lagen unter anderem Adolph Teicherts Schrift „Für Israel" sowie sonstige apologetische, Juden und Judentum betreffende Werke. So hatte er, was nur wenigen bekannt sein dürfte, von einem deutschen katholischen Schriftsteller Joseph Schrattenholz, der vor Jahrzehnten einen „Antisemiten-Hammer'', eine Anthologie aus der Weltliteratur, herausgegeben, worin den Antisemiten gründlich und derb heimgeleuchtet wurde, dieses Werk nicht nur dankend angenommen, sondern auch dem Verfasser eine erkleckUche Summe sowie einen Dankbrief zugesandt. Der Herausgeber erzählte mir, daß er später in Erfahrung gebracht, daß Tolstoi sich über die Schrift auch anderen gegen- über mit größter Anerkennung ausgesprochen hat, und daß er einige in dem „Antisemiten-Hammer" enthaltene deutsche Ge- dichte sich ins Russische übersetzen ließ. Zu diesen von ihm übertragenen Poemen zählte auch das von F. Brunold ver- faßte kleine Gedicht „Der Antisemit", dessen Wortlaut hier mitgeteilt werden soll: DerAntisemit Ist ein verkümmert Gemüt, Der niemals mit offenem Blick Durch Feld und Wald gegangen, ; . Wo die Blumen verschiedentlich prangen, Die Vögel ihr innerstes Glück Ausjauchzen in Liedern mannigfaltig, ;, Die Berge und Seen vielgestaltig. Die Bäume ernst steh'n, jedweder Strauch Durchzittert, durchbebt von Gottes Hauch, Und Du kleinlicher Mensch willst allein Ein Richter über Deine Brüder sein? Geh* in Dich, schlag' an Deine Brust Und bet' in Demut, tief Dir bewußt: Gott sei mir Sünder gnädig! Schon in jungen Jahren kam Graf Leo Tolstoi mit nam- haften Juden in persönlicher Berührung. Dies war unter anderem auch im Sommer 1860 der Fall, als er einige Zeit in Deutschland weilte. Wie der von israelitischen Eltern ab- — 197 — stammende Übersetzer und Biograph des Dichters R a p h a e 1 Löwenfeld, der kürzlich verstorbene Direktor des Schiller- Theaters in Berlin, erzählt, machte damals Tolstoi dem Physio- logen Emil du Bois-Reymond in dessen Hörsaal einen Besuch; bei diesem Anlaß machte er die Bekanntschaft eines israelitischen Kandidaten der Medizin namens Franke 1, der ein Führer des jungen Russen während dessen Aufenthalts in Berlin war. Dieser erkannte in dem russischen Grafen bald einen Mann von außer- ordentlicher Bildung, ungewöhnlichen Fähigkeiten und einer un- sättlichen Wißbegierde. Fränkel führte Tolstoi auch in eine Versammlung des Berliner Handwerker-Vereins. Der Vortrag eines hervorragenden Gelehrten vor Männern aus allen Schichten des Volkes, besonders aber die Eröffnung des Fragekastens, eine Form der volkstümlichen Belehrung, die Tolstoi bis dahin gänzlich unbekannt war, waren für ihn erfreuliche Zeichen einer allgemeinen Bildung, von der sein Vaterland Rußland noch sehr weit entfernt war. Er fand sehr viel Vergnügen an diesen Ver- sammlungen. In Begleitung Fränkels besichtigte er auch das Moabiter Gefängnis, doch widerstrebte das Zellensystem, das dort vorherrschte, seinen menschenfreundlichen Gesinnungen. Von Berlin reiste Tolstoi unter anderem nach Dresden, und zwar in erster Linie zu dem Zweck, um unseren damals dort woh- nenden Glaubensgenossen Bert hold Auerbach, den hoch gefeierten Verfasser der „Schwarzwälder Dorfgeschichten", ken- nen zu lernen. Wie die Biographen Tolstois berichten, hatte der russische Poet dem genialen Volks-Schriftsteller gleich vom Be- ginn seiner literarischen Tätigkeit eine aufrichtige Verehrung ent- gegengebracht. Er erkannte das Gesunde und Erfrischende, das durch diese Novellen in die deutsche Literatur hineingetragen wurde und hielt diese Richtung für eine erfreuliche und nach- ahmensswerte, wenn er auch in ihr mancherlei konstruiert und von philosophischen Gedanken angekränkelt finden mochte. Er unterließ es nicht, Berthold Auerbach gegenüber es auszu- sprechen, daß dessen Dichtungen tiefen und nachhaltigen Ein- druck auf ihn gemacht haben. Auch ist der Einfluß des deutschen Dichters auf die novellistisch-dramatischen Schöpfungen Leo Tolstois unverkennbar. Doch nicht allein die poetischen Werke des ehemaligen Rabbinats-Kandidaten, sondern auch noch ein anderer Umstand führte Leo Tolstoi zu ihm. _ 198 — Die russische Regierung hatte zu jener Zeit, wie Eugen Zabel in seiner Schrift über Tolstoi ausführt, die Anregung zur Ausarbeitung eines Entwurfs gegeben, in dem die Frage erörtert wurde, wie sich die notwendig gewordene Umformung der russi- schen Volksbildung am besten und zweckmäßigsten ausführen lassen würde. Diese Rundfrage war nun einer Anzahl Päda- gogen und Schriftstellern in Frankreich und Belgien, aber auch in Deutschland zugegangen, deren Ansichten über dieses wichtige Thema man russischerseits hören wollte. Es khngt heutzutage wie ein Märchen aus alten Zeiten und ist zugleich für den rückschrittlichen und finsteren Geist, der jetzt in Rußland herrscht, bezeichnend, daß die russische Regierung auch das Gutachten des Juden Berthold Auerbach eingefordert hatte, Tolstoi hatte davon Kenntnis er- halten, und es bereitete ihm hohen Genuß, sich über diesen seinem Herzen nahestehenden Gegenstand zu unterhalten. Auch Auer- bach war eine Plauderei mit seinem Gast sehr willkommen. Freilich waren beide in dieser pädagogischen Beziehung nicht ein und derselben Meinung. Denn was man damals in Deutsch- land als wirksames Mittel der Volkserziehung angewandt hatte, schien dem Russen, der über diese Dinge aus ganz anderen Kulturbedingungen nachdachte und sich mit dem russischen Volksgeiste verwandt fühlte, durchaus nicht immer für seine slawische Heimat zu passen. Tolstoi, der aus den Anschauungen des Landlebens herausgewachsen war und in militärischen Übungen bei den Feldzügen in noch wenig kultivierten Gegenden seinen Körper zahlreichen Griffproben unterworfen hatte, war von einem ganz anderen Ideal der persönlichen Erziehung er- füllt, als er es damals in den deutschen Schulen verkörpert fand. Später freilich, als bei uns die modernen Errungenschaften einer zielbewußten und vernünftigen Pädagogik sich Bahn gebrochen hatten, kannte er willig deren Vorzüge an und sprach sich in rühmender Weise über die deutschen Unterrichts- und Erziehungs- methoden aus. In Jasnaja Poljana wie in Moskau, wo Tolstoi seine Stadt- wohnung hatte, zählten nicht nur christliche, sondern auch jü- dische Arme und Notleidende zu seiner Klientel. Er unterstützte sie alle reichlich, oft über seine finanziellen Kräfte. Rührend war es zu sehen, wie der Graf menschenfreundlich und herzlich — 199 — so einen zerlumpten jüdischen Bettler in zerrissenem Kaftan an der Herrschaftstafel bewirtete, ihm Trost zusprach und sich mit ihm — oft im Jargon — unterhielt. Den unglücklichen jüdischen Opfern in Kischinew wollten nach dem furchtbaren Progrom einige „jüdisch" schreibende israe- litische Schriftsteller durch Veröffentlichung eines in diesem Idian verfaßten „Sammelbuches'' zu Hilfe kommen. Sie wandten sich auch an Tolstoi mit der Bitte um einen Beitrag. Er gab sofort seine Zusage, und richtete an die Herren bei Übersendung seines Werkes „Drei Legenden" die nachstehende Zuschrift, die deutlich genug für seinen Philosemitismus Zeugnis ablegt: „Ich schicke Ihnen die „Drei Legenden" zur Übersetzung in den Jargon und zum Abdruck in dem jüdischen „Sammelbuche", das Sie zum Besten der Opfer von Kischinew herauszugeben beabsichtigen. Ich werde mich aufrichtig freuen, wenn die Aufnahme dieser Legenden in das „Sammelbuch" zu dem Erfolge Ihrer Publikation auch nur ein wenig beitragen sollte. In aufrichtiger Hochachtung Ihr stets dienstbereiter Leo Tolstoi." Schließlich mag noch von seinem brieflichen Bekenntnis, das er in Bezug auf die Judenfrage ablegte, hier Notiz genommen werden: „Was mein Verhältnis zu den Juden anlangt, so sollte es, meine ich, allen denjenigen klar sein, die für meine Welt- anschauung ein Interesse hegen. Mein Verhältnis zu den Juden kann kein anderes sein, als ein Verhältnis zu Brüdern, die ich nicht darum liebe, weil sie Juden sind, sondern darum, weil wir und sie, wie überhaupt alle Menschen, Kinder eines Gottvaters sind, und diese Liebe heischt von mir keine besondere An- strengung, da ich Juden begegnet bin und Juden gekannt habe, die sehr gute Menschen gewesen sind." Die jüdischen Weisen sagen, daß das Andenken der Großen und Starken zum Segen gereiche. Gewiß wird auch das An- denken an den großen, starken und gerechten Tolstoi, den herr- lichen und edlen Menschen, den klaren Denker und den Freund der Juden fort und fort Segen stiften und schließlich auch im offiziellen Rußland seine weihevolle Kraft bewähren. Druck von Friedrich Engelke, Papiermühle S.-A. DS Kohut, Adolph 141 Gekrönte und ungekrönte K64 Judenfreunde PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY e V >i^_